Eric – 74

Eric – 74

„Irgendwann hat sie die Sache mit dem Glück einfach nicht mehr versucht“, sagte ich und dachte an den Tag, als sie nicht mehr da gewesen war. Es gab keinen Abschiedsbrief, keine weichen Worte, die mir irgendetwas hätten leichter machen sollen – es gab nichts. Gar nichts.

Sie war einfach gegangen.

Ich wusste noch genau, wie ich von der Schule heimgekommen war, wie plötzlich die Küche leer gewesen war und ich mir vorgestellt hatte, dass sie irgendeine Freundin besuchte oder eine Überraschung für meinen Geburtstag besorgte, weil sie von ihrem spärlichen Haushaltsgeld, das sie von meinem beschissenen Vater erhielt, regelmäßig etwas abgezweigt hatte. Und als ich dann in meinem Zimmer lag, und mein Vater polternd nach Hause kam und zu schreien und toben anfing, noch lauter als sonst, und als in diesem Schreien nicht nur Wut, sondern auch die leise Spur der Verzweiflung lag, da wusste ich es.

„Diese Schlampe!“, hatte er immer und immer wieder gebrüllt. „Diese verfluchte Schlampe!“, brüllte er durch jede Ecke unseres Hauses. Und dann hörte ich schon seine Schritte, wie sie immer näher kamen, dieses dumpfe, eindringliche Geräusch, das ich bis heute nicht vergessen habe und das mir auch in der Nacht noch begegnet. Er riss die Tür zu meinem Zimmer auf.

„Sie ist weg“, fauchte er und öffnete zischend seine Bierdose. „Deine Mutter ist eine verfickte Schlampe, Eric. Sie ist gegangen, zu einem anderen, lass dir das eine Lehre sein!“ Er torkelte in mein Zimmer, dann packte er mich am Kragen. Meine Hände zitterten, ich hatte so viel Schiss vor dem Typen, dass ich nicht mehr atmen konnte. Ich versuchte still zu sein, so zu tun, als wäre ich gar nicht hier. Als wäre es nur mein Körper, der noch da war, als wäre der Rest einfach mit ihr mitgegangen. Ich hatte Angst vor jedem Wort, vor jedem Geräusch das ich machen konnte, ich hatte Angst, ihn irgendwie noch wütender zu machen.

Ich hatte panische Angst davor, wozu er imstande war.

„Frauen sind Dreck, der reinste Dreck, beschissener Abschaum“, fauchte er und sein Gesicht kam meinem ganz nahe. Er stank nach Alkohol und ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte. Es hatte schon Prügel gegeben, wenn ich ihn anstarrte oder wenn ich ihn nicht ansah, er brauchte keinen Grund dafür.

„Merk dir das, sie sind das Letzte, die Weiber sind nix wert, du kannst sie vögeln, aber nicht schwängern“, knurrte er und dann ließ er mich abrupt los, so dass ich gegen mein Bett knallte. „Schwängere sie niemals“, wiederholte er schnaubend. „Sonst lassen sie dich mit so einer Scheiße wie dir sitzen.“

 

„Eric, alles okay?“, schob sich Esther in meine Erinnerungen.

„Ja“, sagte ich und versuchte, seinen Geruch aus der Nase zu bekommen.

Esther rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. „Wir können auch umdrehen, wenn du möchtest.“ Ihre Stimme klang sanft, und mit ihr kehrten die Bilder wieder in das Verlies zurück, in das sie gehörten.

„Es ist okay.“

„Wirklich?“

Ich nickte und schüttelte dann den Kopf. „Nein, aber darum geht es gerade nicht. Es geht nicht darum, was ich will.“

Esther schob sich eine blonde Haarsträhne zurück. „Worum geht es dann?“

„Wie hast du es vorhin ausgedrückt?“, fragte ich und erinnerte mich an ihre Worte. „Es geht darum, das Richtige zu tun“, sagte ich.

„Auch wenn es sich scheiße anfühlt?“

Ich stimmte ihr zu. „Auch wenn es sich verdammt scheiße anfühlt.“

 

Die nächsten Stunden saßen wir im Auto und unterhielten uns kaum, was wahrscheinlich daran lag, dass Esther mir Zeit geben wollte. Zeit für mich.

Doch in Wahrheit wollte ich diese Zeit nicht, ich wollte nicht darüber nachdenken, wie es werden würde, ihr nach all den Jahren zu begegnen. Ich erinnerte mich an ihre blonden Haare und das Lächeln, das ständig in ihrem Gesicht war, ich erinnerte mich an ihr Summen und an ihren Duft.

Sie hatte immer nach einer Mischung aus Rosenblüten und Kokos gerochen und noch heute zog sich alles in mir zusammen, wenn ich daran dachte oder auch nur ein ähnlich beschissenes Parfüm roch.

Esthers Kopf ruckte plötzlich nach hinten. „War das nicht unsere Ausfahrt?“, fragte sie und verdammt, sie hatte recht.

5 thoughts on “Eric – 74

  1. Ach man ich habe diesen Blogroman letztens in einer eurer Bücher gesehen und bin so gebannt von der Vorgeschichte von Lee und Ben Ich finde es bewundernswert was ihr hier in einer Woche hin zaubert und wenn man gerade daran ist ein neues Buch zu schreiben dann muss es doch noch umso schwerer sein Deshalb wollte ich euch auch noch einmal Danke sagen
    (Und etwas was ich mich schon lange gefragt habe… Was hat es mit all den Zahlen zu tun ? (11, 17, 13, 19, 8))

    1. Liebe Helena, danke für dein schönes Feedback!
      Die Zahlen haben sich durch Zufall zu unserem Markenzeichen entwickelt. Begonnen hat alles mit den 8 Sinnen, dann kam 17 und da haben wir plötzlich gemerkt: Zahlen sind irgendwie unser Ding – vor allem, da die Geschichte der 11 Gezeichneten ebenfalls aus der Story heraus eher zahlenlastig ist 🙂
      LG, Ulli & Carmen

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