Eric – dreißig

Eric – dreißig

Ich hatte den Ausgang schon fast erreicht, als ich Esthers Stimme hörte. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand einen Elektroschock verpasst, und ich fuhr herum.

Eine alte Frau mit einem hässlichen Köter sah mich erschrocken an und der Köter begann zu kläffen. Ich wich zur Seite aus und ließ meine Augen über die Menschenmenge schweifen.

Scheiße. Waren das noch die Nachwirkungen von dem Zeug, das die Schwarzhaarige dabei gehabt hatte?

Bei dem Gedanken an die Tussi mit ihrem Arschgeweih verzog ich unwillkürlich das Gesicht. Plötzlich fühlte ich mich unglaublich dreckig, aber es war ein Dreck, den man nicht einfach so abwaschen konnte, egal, wie lange man sich unter die Dusche stellte.

Der Lautsprecher rief einen abfahrenden Zug aus und meine Beine setzten sich wie von selbst in Bewegung. Ich lief quer durch die Eingangshalle, vorbei an einem Blumenhändler und einem Bäcker, vorbei an dem Zeitungskiosk und einer Frau mit Kinderwagen, bis ich Bahnsteig 1 erreicht hatte. Nur wenige Leute warteten hier auf den Zug, aber Esther war nicht darunter.

Atemlos wandte ich mich um und rannte weiter, zu Bahnsteig 2, dann zu 3 und zu 4, während mir mein Instinkt befahl, nicht stehenzubleiben, und mein Kopf sagte, dass ich ein verdammter Idiot war.

Eine dreistufige Tonfolge kündigte die Ankunft eines neuen Zuges auf Gleis 8 an. Ich blieb kurz stehen und stützte meine Hände auf meinen Knien ab, während ich mich keuchend umblickte. Überall waren Menschen, wieso mussten hier so beschissen viele Menschen sein, wenn ich doch nur einen einzigen finden wollte?

Neben mir erklangen schnelle Schritte und ich sah einen alten Mann, der in Richtung von Gleis 8 rannte.

Irgendwie schienen alle zu Gleis 8 zu rennen und ich dachte nicht lange darüber nach, ich rannte einfach mit.

 

Und dann sah ich sie. Sie trug eine graue Jacke und abgewetzte Jeans, und sie stieg in dieser Sekunde in den verdammten Zug. Ich rannte noch schneller, während tausend Gedanken durch meinen Kopf schwirrten, die ich am liebsten auf der Stelle zu einem Song verarbeitet hätte, weil es sich einfach so geil anfühlte und ich mich nicht erinnern konnte, wann ich je so einen Kick gespürt hatte.

Ich hatte sie gefunden. Der Arsch im Coffeeshop hatte gelogen, aber ich hatte sie trotzdem gefunden. Der Zug würde jeden Moment abfahren und ich rannte noch schneller. Meine Augen suchten die Abteile hinter den großen Fensterscheiben ab und dann trafen sich unsere Blicke, und ich begann etwas zu fühlen, das sich aufregend und unerwartet und vorsichtig und wunderschön anfühlte.

So schnell ich konnte, lief ich weiter, rannte wie um mein verdammtes Leben, der Zug schloss seine Türen, aber mir fehlten nur noch wenige Meter, ich wusste, dass ich es schaffen würde, gleich würde ich bei ihr sein.

Esthers Blick auf mir verlieh mir zusätzlich Antrieb, und dann hatte ich den Waggon erreicht. Ich streckte die Hand nach dem Türöffner aus und im nächsten Moment knallte ich auf den Boden. Ich hatte keinen Schimmer, was passiert war, aber der Aufprall riss mir die Luft aus den Lungen und ich wälzte mich keuchend zur Seite, als der Zug zischend abfuhr.

Verzweifelt versuchte ich, auf die Beine zu kommen, aber es fühlte sich beinahe so an, als ob mich eine unsichtbare Macht am Boden festhielt, und als ich mich endlich aufgerappelt hatte, war es zu spät.

 

Dieser Scheißkerl. Dieser Scheißkerl im Coffeeshop, er hatte mich absichtlich verarscht. Ich ballte die Fäuste, während die Wut in mir kochte und ich mir in allen Details ausmalte, wie ich jetzt zu ihm gehen und die Scheiße aus ihm rausprügeln würde. Ja, genau das würde ich jetzt tun, und dann würde ich ihre Nummer anrufen und dann …

Mein Handy vibrierte und ich zerrte es aus meiner Tasche.

Es war Chris.

Ich nahm ab. „Hör zu, wenn du wegen meiner Mutter anrufst, ist das gerade ein verdammt schlechter Zeitpunkt“, fauchte ich ins Telefon.

„Mister Adams?“, fragte eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung. „Hier spricht Schwester Agathe aus dem Memorial Hospital. Es tut mir leid, was ich Ihnen jetzt sagen muss, aber Ihr Angehöriger hatte einen schweren Unfall. Er wird zur Zeit operiert und …“, sie machte eine kurze Pause, „er wäre besser, wenn Sie kommen.“

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