Eric – einunddreißig

Eric – einunddreißig

Die weißen Wände starrten mich an und die beschissene Zeit verging einfach nicht. Ich tigerte in dem Wartezimmer herum, hätte am liebsten die Wände eingerissen, aber ich musste Geduld haben, während alles in mir nur hoffte, dass er überlebte. Während ich innerlich mit einem Gott zu verhandelt begann, einem Gott, den ich noch nie gesehen hatte, aber ihm alles bot, was ich hatte, nur damit Chris weiterleben konnte.

„Mister Adams, wir operieren noch“, hatte die Schwester im weißen Kittel zu mir gesagt. „Sie müssen noch etwas Geduld haben. Ihr Cousin hatte einen schweren Unfall. Unsere Ärzte tun ihr Bestes, das können Sie mir glauben.“

Ich dachte an den scheiß Motorradfahrer, der ihn abgeschossen hatte, dachte daran, dass der Typ schon tot war, aber es fühlte sich nicht besser an, es fühlte sich nicht nach Vergeltung an. Die Angst kroch durch mich hindurch, sie floss durch meine Adern und ich wollte mir nicht vorstellen, dass Chris’ Pumpe einfach aufgeben würde. Chris musste weitermachen, Chris war doch der Einzige, der noch Bedeutung hatte.

Die ganzen Erinnerungen prasselten auf mich ein, wie der Platzregen, der vor dem Fenster tobte. Ich dachte an die blöden Spiele auf der Straße, unsere Wettrennen, das Skateboardfahren und die Musik, die wir uns gemeinsam reingezogen hatten.

Wie gerne wären wir damals zelten gegangen, aber der Alte hatte was dagegen und Chris’ Eltern hatten zu viel Schiss vor ihm. Jeder hatte zu viel Schiss vor ihm, er mit seinem Footballshirt und den bescheuerten Sandalen.

Wie gerne hätte ich damals mit Chris getauscht, wie gerne hätte ich den beschissenen Vater gegen seine leisen Eltern ausgewechselt, wie gerne hätte ich mit allen getauscht, um nur nicht mein Leben zu führen.

Bevor ich weggelaufen war, bevor ich vor dem Haus und seinen Geräuschen davongelaufen war, hatten Chris und ich alles geteilt. Unsere bodenlosen Wünsche, die wie Wolken dahinzogen, unsere Ängste, die nicht kleiner wurden.

Die erste Zigarette hatte ich mit Chris geraucht, er hatte gehustet und fast gekotzt und ich hatte einen auf lässig gemacht, hatte mich an den alten Baum gelehnt und mich irre erwachsen gefühlt. In den Momenten konnte ich vergessen und die Welt schien groß und erreichbar, aber die Momente waren kurz. Chris hatte nochmals gezogen und fast wieder gekotzt und ich hatte die Zigarette weitergeraucht und der Alte roch es natürlich, und dann ging’s erst richtig los.

Manchmal fehlten mir ein paar Augenblicke, Sekunden oder Minuten, die Bulldogge würde sicher was von Schutzmechanismen faseln, und die Momente, an die ich mich nicht erinnern konnte, waren noch schlimmer, als die, von denen ich wusste.

Der Alte hatte mir die Seele aus dem Leib gedroschen, hatte mich über die Treppe in mein Zimmer gezerrt, er hatte einen schlechten Tag in der Arbeit gehabt und den bekam ich zu spüren.

Ich dachte an Chris, der mich danach aufbauen wollte, obwohl das nie gelang.

„Irgendwann stirbt er“, hatte er gesagt, als wir am Randstein saßen, „irgendwann muss er doch sterben.“

„Der stirbt nicht so schnell“, hatte ich geantwortet und jede verdammte Rippe gespürt.

„Doch, alle sterben einmal, der auch“, hatte er gesagt und jetzt hoffte ich, dass Chris nicht damit anfangen wollte.

Ich setzte mich wieder hin, stand dann wieder auf, ließ mir kaltes Wasser aus dem Wasserspender in einen Becher laufen, trank ein paar Schlucke und wurde hier in dem Raum noch verrückt. Ich lief hin und her, auf und ab und hätte am liebsten mit der Faust gegen die Wand gedonnert.

Was machten die so lange? Es war eine Not-OP, sie hatten die besten Ärzte, ich könnte jetzt nichts tun, außer beten und warten, das hatten sie gesagt und ich dachte an den Schutzengel, an den beschissenen Schutzengel, der doch das letzte Mal bei mir aufgetaucht war, als ich gegen den Baum gefahren war, wo war der Scheißkerl jetzt?

Bald drehte ich durch.

„Mister Adams“, sagte ein Arzt, der durch die Tür kam und sich den Mundschutz hinunterzog. Ich versuchte, in seinen Augen etwas zu deuten, war er … lebte Chris noch?

„Ihr Cousin hatte sehr schwere innere Blutungen. Wir konnten die Blutungen stoppen, müssen jetzt aber abwarten, wie sich die nächsten Stunden entwickeln. Er ist noch instabil und noch nicht außer Lebensgefahr.“

 

 

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