Eric – zweiundvierzig

Eric – zweiundvierzig

„Du bist unser neuer Manager?“, fragte ich ungläubig. „Und wer hat dich eingestellt?“

„Wir“, sagte Aron hart.

Ich drehte mich zu ihm um. „Ihr tut das ohne mich?“

Aron ballte die Fäuste. „Du warst ja nie da.“

„Aber, aber!“, rief Simon und legte mir beschwichtigend die Hand auf den Arm. Ich schüttelte sie ab und er tat so, als ob er sich sowieso gerade durch die wuscheligen blonden Haare hätte fahren wollen. Dabei grinste er unbeeindruckt und ich kniff die Augen zusammen.

Der Typ war mir suspekt.

„Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen“, sagte dieser Simon jetzt und streckte mir förmlich die Hand hin. „Ich kann es noch immer kaum glauben, einen Typen wie dich unter Vertrag zu haben, Eric.“

Er wirkte so glücklich, als er das sagte, dass ich nur leicht den Kopf schüttelte. „Geht mir genauso“, murrte ich.

„Ich hab schon von den Jungs gehört, das du mit dem vorigen Manager des öfteren Meinungsverschiedenheiten hattest. Das wird mit uns sicher besser laufen.“

„Davon würde ich nicht ausgehen“, erwiderte ich und erntete ein amüsiertes Lächeln von dem Typen.

Er strich sich die blonden Haare nach hinten. „Doch, genau davon gehe ich aus.“

 

Nachdem sich dieser Simon vorgestellt hatte, begannen wir mit der Probe. Unser neuer Manager pflanzte sich eine Ecke und hörte zu. Das hatte Alex nie gemacht und ich brauchte eine Weile, um mich darauf einzulassen. Aber schließlich blendete ich ihn einfach aus und ließ mich auf die Musik ein. Dabei dachte ich an Esther. Sie ging mir nicht aus dem Kopf, sie steckte in jeder verdammten Note und als ich gemeinsam mit den Jungs das Lied spielte, das ich für sie geschrieben hatte, sah ich, wie sich dieser Simon mit einem Taschentuch die Augen abtupfte.

„Das war großartig“, sagte er dann. „Ich schwör euch, das wird euch noch größer machen, als ihr ohnehin schon seid.“

 

Nach der Probe redete ich noch ein paar Takte mit den Jungs. Noah und Cliff waren okay zu mir, nur Aron zierte sich noch immer wie ein kleines Mädchen. Sollte er. Ich würde ihn zu nichts zwingen.

„Hey“, sagte Simon und kam zu mir rüber, als die anderen gerade über die Anschaffung eines neuen Keyboards diskutierten. „Es tut mir leid, dass ich dir so aufs Aug gedrückt worden bin, Eric.“

Ich sah ihn an und rang mit mir. Er schien ein netter Kerl zu sein, aber Alex schien anfangs auch ein netter Kerl zu sein. Der einzige Vorteil, den dieser Typ hatte, war, dass er nicht meine Frisur imitierte.

„Ich bin nicht so der Plaudertyp“, sagte ich.

Simon grinste. „Das ist okay. Ich bin geduldig.“

 

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Wir hatten bis spät in die Nacht geprobt und danach war ich total kaputt ins Bett gefallen. Und obwohl ich so fertig war, dass sich meine Arme und Beine wie schwere Gewichte anfühlten, die mich nach unten zerrten, konnte ich nicht sofort schlafen. Immer wieder sah ich ihr Gesicht vor mir, den verletzten Ausdruck in ihren Augen, den ich erhascht hatte, als ich sie vor ihrer Wohnung abgesetzt hatte.

Und die einzige Frage, die die ganze Zeit in meinem Kopf rumorte, war die, ob ich gerade dabei war, den größten beschissenen Fehler meines Lebens zu machen.

Ich hatte sie gehen lassen.

Ich Idiot hatte sie gehen lassen, ich hatte nichts getan, hatte nichts gesagt, um die Scheiße vom Rummelplatz irgendwie aufzulösen – und jetzt saß ich da und sang beschissen melancholische Lieder, als ob sie gestorben wäre. Doch das war sie nicht.

Sie war da. Esther lebte.

Sie lebte.

 

Am nächsten Morgen hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich stand auf, ging duschen und schnappte mir meinen Autoschlüssel. Dann fuhr ich zur Uni.

Hallo ihr Lieben!

Puh. Da sind wir aber alle froh, dass Eric nun zur Uni fährt, oder? Nächste Woche Dienstag geht es dann gleich weiter mit Esther, und wer bis dahin Lesestoff braucht – diesen Sonntag erscheint unser neues Buchbaby: „17 – Das erste Buch der Erinnerung.“ In unserem Newsletter informieren wir noch über den Start, aber hier schon mal für euch ein kleiner Vorgeschmack 🙂

Alles Liebe, Carmen & Ulli

Leseprobe aus „17 – Das erste Buch der Erinnerung“:

Das neue Zimmer in dem neuen Haus roch nach Farbe. Es war die aggressive Sorte, die einem beim Einatmen das Gefühl gab, sämtliche Nasenhaare wegzuätzen, und ich ging mit schnellen Schritten zum Fenster, um frische Luft hereinzulassen.

Draußen war es schon dunkel. Der Regen trommelte gegen die nassen Scheiben und ein Schwall kalter Luft kam mir entgegen, als ich das Fenster öffnete. Ich spürte, wie der Regen mein Gesicht benetzte, und atmete tief ein. Unter mir lag unser neuer Vorgarten, dahinter die neue Straße mit der neuen Nachbarschaft, und irgendwo dahinter die neue Schule, der ich mich morgen stellen musste. Alles neu.

Ich bereute, mich diesmal nicht stärker gewehrt zu haben.

Der Regen klatschte mir ins Gesicht und die Nässe auf meinen Wangen erinnerte mich daran, wie ich früher oft geweint hatte, wenn wir umgezogen waren – meist genau dann, wenn ich endlich Freunde gefunden hatte. Doch das war nicht mehr als eine Erinnerung. Inzwischen weinte ich nicht mehr, inzwischen versuchte ich, gar nichts mehr zu fühlen. Was man nicht fühlte, konnte man auch nicht vermissen.

Eine Weile blieb ich so stehen und starrte hinaus in die Dunkelheit. Dabei versuchte ich, nicht an Pippa und Franzi zu denken, die ich vor einer Woche zum letzten Mal gesehen hatte und die ich trotz all meiner guten Vorsätze des Nicht-Fühlens mit einer Intensität vermisste, die mich selbst überraschte. Natürlich schrieben wir uns noch, aber ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis uns das Leben dazwischenkommen und sie mich vergessen würden. Es war nicht einfach, Freundschaften aufrechtzuerhalten, die nur knappe sechs Monate gedauert hatten.

Als mir der Wind eine eisige Bö mit kalten Wassertropfen ins Gesicht schleuderte, schloss ich das Fenster wieder. Ich konnte diese Stadt schon jetzt nicht ausstehen. Wir hätten kaum weiter in den Norden ziehen können, ohne auf einer Eisscholle zu leben.

Seufzend setzte ich mich an den neuen weißen Schreibtisch und zog die zerknitterte Liste aus meinem Rucksack.

„Keine Reue, Jo“, flüsterte ich mir leise zu und meine Stimme klang seltsam fremd in dem spärlich möblierten Zimmer. Bisher gab es darin nur ein Bett, eine Kommode und diesen nüchternen Schreibtisch mit der blauen Tischlampe. Und so würde es auch bleiben. Ich hatte es aufgegeben, Zeit und Energie in eine gemütliche Einrichtung zu investieren, da wir in ein paar Monaten sowieso wieder die Stadt wechseln und nur das Nötigste mitnehmen würden.

Behutsam strich ich die Liste glatt und starrte darauf. Ich hatte sie vor ein paar Wochen gemeinsam mit Pippa und Franzi begonnen, genau an dem Tag, als Oskar Decker mich zu seiner angesagten Halbjahres-Abschlussparty eingeladen hatte.

Die Überschrift lautete: 17 Dinge, die ich vor meinem 17. Geburtstag tun möchte, weil ich meine langweilige Jugend sonst ewig bereuen würde. Die Idee dafür stammte von Pippas verrücktem Reue-Spiel, das sie sich vor meiner Zeit ausgedacht hatte – angeblich weil Franzi zu oft zu viele Dinge bereute. Damit zog Pippa Franzi immer auf, aber ich glaubte, dass sie es einfach interessant fand, sich zu überlegen, was andere Leute in ihrem Leben oder einer bestimmten Situation bereuten.

Je länger ich mich mit der Liste beschäftigte, desto wichtiger wurde sie für mich. Von den 17 Punkten hatte ich mir bisher zwar erst 13 überlegt, aber ich war fest entschlossen, meine Anti-Reue-Vorsätze nach und nach umzusetzen, wie lächerlich sie auch sein mochten.

Deshalb stand auch Oskar Decker küssen ganz oben auf meiner Liste, gefolgt von: Endlich irgendwo ankommen.

Punkt eins hatte ich nach Oskars Party durchgestrichen, doch angekommen war ich noch immer nicht. Meine Augen flogen über die restlichen Zeilen. Mein siebzehnter Geburtstag war in fünf Wochen und ich hatte noch nicht einmal die Hälfte meiner Anti-Reue-Vorsätze abgehakt.

Einen Joint rauchen.

Von einem Bungee-Kran springen.

Auf ein Konzert von NEBEN gehen.

Einen wahren Freund finden. Das hatte ich in einem sentimentalen Moment geschrieben und jetzt starrte ich darauf und fragte mich, ob Pippa und Franzi diesen Punkt erfüllten. Ich dachte an unser letztes Selfie, als Pippa meine langen blonden Haare wie einen Schnurrbart über ihre Lippen gelegt und Franzi ein Duckface gemacht hatte und wir alle so viel lachen mussten, dass mir hinterher der Bauch wehgetan hatte. In der kurzen Zeit in Wien hatte ich sehr viel Spaß mit Pippa und Franzi gehabt. Wir hatten zusammen „The 100“ und „Pretty little liars“ gesuchtet, hatten verrückte Kochexperimente durchgeführt, Zeitschriften gelesen und Musik gehört, bei der Pippa immer viel zu laut mitgesungen hatte.

Seufzend ließ ich meinen Blick weiter über die Liste gleiten. Es gab so vieles, was hier noch offen war, und einiges, das sich nur schwer erreichen ließ oder für das ich mich schlicht nicht mutig genug fühlte.

„Keine Reue“, flüsterte ich erneut, denn ich hasste das Gefühl, zurückzublicken und zu denken, etwas versäumt zu haben. Reue schien allgegenwärtig zu sein, nicht nur bei mir. Ich sah sie in den Gesichtern der Menschen, sah sie jeden Tag auf den Zügen meines Vaters, der noch immer vor dem Tod meiner Mutter davonlief, und den die Reue innerlich auffraß. Ich hatte keine Lust, so zu enden.

Gedankenverloren strich ich mit den Fingerspitzen über das silberne Medaillon, das ich um den Hals trug. Das ovale Schmuckstück mit den filigranen, verschnörkelten Verzierungen hing an einer zarten Kette und schmiegte sich sanft an meine Brust. Ich hatte es von meiner Mutter geerbt, die es wiederum von ihrer Tante Leonore vermacht bekommen hatte. Die Eltern meiner Mutter waren sehr früh gestorben und meine Mutter war deshalb bei meiner Großtante aufgewachsen, die ich selbst nicht mehr kennengelernt hatte. Aus Erzählungen wusste ich nur, dass sie ziemlich esoterisch veranlagt gewesen sein musste und viel von der eigenen inneren Kraft gehalten hatte.

Vorsichtig öffnete ich das Medaillon. Auf der einen Seite war der Satz „Der Schlüssel liegt in dir“ eingraviert und auf der anderen Seite befand sich das Foto meiner Mutter. Sie war eine sehr schöne Frau gewesen, und auch wenn ich ihre langen blonden Haare und die großen braunen Augen geerbt hatte, konnte ich mit ihrem entwaffnenden Lächeln nicht mithalten. Für einen Moment lächelte ich zurück, doch dann zog wieder die Schwere ihrer Abwesenheit an mir und drohte mich beinahe zu erdrücken. Schnell schloss ich das Medaillon.

Dann setzte ich die Spitze des Füllers auf das Papier und schrieb auf, was mir spontan in den Sinn kam:

Nicht in der Erinnerung leben. Nach vorn sehen.

Selbst wenn dieses Vorn ein beschissener erster Tag in einer neuen Schule war.

 

In der Nacht schlief ich schlecht. Anscheinend hatte ich wieder einen Albtraum, an den ich mich am nächsten Morgen nicht erinnerte, denn mein T-Shirt war völlig durchgeschwitzt. Als ich aufstand, präsentierte sich der neue Tag trüb, grau und nebelig. Da meine Stimmung ohnehin schon am Boden war, deprimierte mich der Blick aus dem Fenster jedoch nicht übermäßig, sondern traf genau meine Erwartungen an diese Stadt. Gähnend tappte ich ins Badezimmer und duschte so lange, bis das heiße Wasser aufgebraucht war. Dann griff ich nach meiner grauen Lieblingsjeans sowie einem schwarzen T-Shirt, bürstete mir die Haare und hörte noch kurz etwas Musik. Ich mochte die traurigen Texte der Band NEBEN und vor allem mochte ich die raue Stimme des Sängers. Während ich noch ein paar Songs lauschte, blätterte ich nebenbei in einem GEO Magazin und riss mich erst los, als es an der Zeit war, zur Schule zu gehen. Dann schnappte ich mir meinen Rucksack und ging die Treppe hinunter, um den ersten Tag hinter mich zu bringen.

 

Mein Vater saß schon mit einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch und las Zeitung. Sein Gesicht wurde dabei zur Hälfte verdeckt, sodass nur seine grauen Augen hinter der eckigen Brille und seine Glatze zu sehen waren. Ohne Brille hatte mein Vater eine verblüffende Ähnlichkeit mit Professor Xavier aus X-Men, auch wenn er etwas größer war und keine Gedanken lesen konnte. Wobei er bei meinem aktuellen Gesichtsausdruck wohl auch keine Gedanken zu lesen brauchte.

„Guten Morgen, Jo“, sagte mein Vater, blickte von seiner Zeitung auf und faltete sie langsam zusammen.

„Morgen“, murmelte ich und öffnete die Kühlschranktür. Gähnende Leere erwartete mich dahinter und das neue Gerät verströmte noch diesen chemischen Industriegeruch – es kam mir so vor, als würde es überall in diesem Haus nach Farbe und Chemie stinken.

Mit einem Seufzen schloss ich die Tür und schnappte mir einen Apfel aus der Obstschale. Er war nicht mehr ganz frisch, aber besser als gar nichts.

„Ich muss heute unbedingt einkaufen gehen“, sagte mein Vater und trank den letzten Schluck seines Kaffees leer.

Ich biss in den Apfel. „Kein Ding. Ich hab sowieso nicht viel Hunger.“

Mein Vater, der wie immer ein kariertes Hemd trug, stand auf und stellte seine leere Tasse in die Spüle. „Soll ich dich zur Schule fahren?“ Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. „Es sieht so aus, als ob es jeden Moment zu regnen anfängt.“

„Hm, sieht ganz danach aus“, gab ich so sachlich wie möglich zurück. „Laut meteorologischer Statistik hat Hamburg 133 Regentage pro Jahr. Man kann also davon ausgehen, dass es an jedem dritten Tag regnen wird. Hast du vor, mich dann jedes Mal zu fahren?“ Der letzte Satz kam etwas schärfer aus mir heraus, denn es nervte mich, dass er jetzt so tat, als ob ihn das bescheuerte Wetter überhaupt kümmerte. Es hatte ihn schließlich niemand gezwungen, den Job in Hamburg anzunehmen.

„Jo, bitte lass das“, sagte mein Vater.

„Du wolltest hier herziehen, nicht ich“, sagte ich vorwurfsvoll und schnappte mir meinen Rucksack. „Bis später.“

„Es gibt da etwas, über das wir reden müssen, so schnell wie möglich“, fügte er hinzu, doch da war ich schon an der Tür.

„Klar, was immer du willst – aber jetzt muss ich wieder zu einer neuen Schule“, rief ich ihm zu und verließ das Haus, ohne noch einmal zurückzusehen.

 

Auf dem Weg die Straße runter versuchte ich die Entscheidung meines Vaters und diese nasskalte Stadt ein bisschen weniger abzulehnen. Wir waren in eine breite Straße mit hohen Kastanienbäumen gezogen und ich wich einigen großen Pfützen aus, während ich das Gespräch im Geiste Revue passieren ließ, bevor ich mir selbst befahl, damit aufzuhören.

Es machte keinen Sinn, in der Vergangenheit herumzustochern, selbst wenn diese noch keine fünf Minuten alt war.

Ein paar Häuser weiter stand ein großer Umzugswagen auf der anderen Straßenseite und ich verlangsamte automatisch meine Schritte, während ich hinübersah. Ein blonder Typ um die vierzig diskutierte gerade mit einem keuchenden Möbelpacker. Anscheinend ging es um einen wertvollen Kirschholzschrank, der nicht durch die Eingangstür passte. Unser neuer Nachbar warf immer wieder sorgenvolle Blicke gen Himmel und schien zu bereuen, hierhergezogen zu sein. Wie gut ich ihn verstehen konnte.

 

Als das Schulgebäude aus rotem Ziegelstein in Sicht kam, legte sich ein unangenehmes Gewicht auf meine Brust. Obwohl man meinen sollte, dass ich genug Übung darin hatte, immer wieder neu anzufangen, konnte ich die ersten Tage an einer neuen Schule nicht leiden. Ich konnte die anfängliche Aufmerksamkeit genauso wenig ausstehen wie die wertenden Blicke und die oberflächlichen Gespräche. Ich war einfach nicht gut in Small Talk. Unglücklicherweise war ich auch nicht gut darin, fremde Leute an mich ranzulassen, was jede tiefer gehende Unterhaltung ausschloss. Nur bei Pippa und Franzi war es irgendwie anders gewesen – vielleicht weil die beiden direkt auf mich zugesteuert waren und mir mit ihrer offenen, lustigen Art gar keine andere Chance gelassen hatten, als sie zu mögen. Mit ihrem verrückten Reuespiel hatten sie meinen Schulalltag ordentlich aufgepeppt und nachdem ich begonnen hatte, meine Aufmerksamkeit der imaginären Reue meiner Mitmenschen zu widmen, ließ sich diese Angewohnheit nur schwer wieder ablegen – denn die Reue versteckte sich überall. Auf dem Weg hierher hatte ich mir einen Chai Latte gekauft und dabei eine Mutter mit schreienden Zwillingen gesehen, die es definitiv bereute, kein Kindermädchen eingestellt zu haben. Zurück auf der regennassen Straße, war mir ein Mann im Businesslook über den Weg gelaufen, der laut fluchend bereute, in eine Pfütze gestiegen zu sein.

Ich nahm einen Schluck von meinem heißen Tee. Irgendwann würde ich vielleicht auch dahinterkommen, was genau mein Vater bereute, der oft abwesend und in Gedanken versunken wirkte. Ich war mir sicher, dass es etwas mit Mamas Tod zu tun hatte, da er seitdem ruhelos von einem Ort zum nächsten gezogen war. Deshalb wünschte ich mir so gut wie täglich, er würde seine Erinnerungen endlich mit mir teilen.

Ein lauter werdendes Gekicher ringsum lenkte meine Aufmerksamkeit wieder ins Hier und Jetzt. Auf der breiten Treppe, die zum Eingangstor der Schule führte, sah ich ein pummeliges Mädchen mit schwarzen Locken und Sommersprossen, das einen knallroten Mantel zu neongrünen Stiefeln trug und mit dieser Farbkombination für allgemeine Erheiterung sorgte. Der zornige Blick, den sie den kichernden Mädels zuwarf, signalisierte, dass sie es noch bereuen würden, sich über ihr modisches Experiment lustig gemacht zu haben. Dennoch führte jedes verächtliche Lachen dazu, dass sich ihre Wangen etwas dunkler färbten, bis ihr Gesicht zu glühen schien und mit dem knallroten Mantel um die Wette leuchtete.

Ich rückte meinen Rucksack auf der Schulter zurecht, während ich die Treppe nach oben ging. Das Mädchen in dem gewagten Outfit tat mir leid, denn obwohl sie offensichtlich versuchte, sich nicht unterkriegen zu lassen, sah man ihr an, dass sie die Reaktionen ringsum auch nicht kaltließen. Ich betrachtete im Vorbeigehen die gertenschlanke Schülerin mit dem tiefroten Lippenstift, von der der meiste Spott ausging, und überlegte, ob ich mich einmischen sollte, als ich hinter mir jemanden leise schnauben hörte. Automatisch drehte ich mich um. Das Geräusch kam von einem schwarzhaarigen Typen, der hinter mir die Treppe hochkam und um den alle einen Bogen zu machen schienen. Er betrachtete missbilligend das Mädchen mit den roten Lippen, das daraufhin zu grinsen aufhörte und rasch weiterging, bevor sein verärgerter Blick zu mir schwenkte. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ihm direkt in die funkelnden dunkelgrünen Augen und mein Puls schoss in die Höhe. Normalerweise reagierte ich nicht so auf Jungs, aber dieser hier war irgendwie anders. Eine düstere Aura schien von ihm auszugehen. Sein Blick war unglaublich intensiv und dazu kam, dass er wirklich verboten gut aussah. Seine Haare waren kurz geschnitten und er hatte ein kantiges Gesicht, das nicht den Anschein erweckte, als ob er jemals damit lächelte. Seine Züge waren ebenmäßig; er hatte eine gerade Nase und volle Lippen und noch während ich seinen Anblick in mich aufsaugte, kam er weiter auf mich zu. Allerdings beachtete er mich längst nicht mehr. Erst als wir beide auf derselben Stufe standen, erstarrte er mitten in der Bewegung. Ich sah, wie er beinahe reflexartig sein linkes Handgelenk umfasste und seinen Kopf in meine Richtung drehte. Für einen Moment wirkte er überrascht, doch schon im nächsten Augenblick zeichnete sich unverhohlene Feindseligkeit auf seinen Zügen ab. Verwirrt versuchte ich, den plötzlichen Sinneswandel zu verstehen, doch da hatte er sich schon abgewandt und war mit schnellen Schritten in der Menge verschwunden.

Mit klopfendem Herzen sah ich ihm hinterher.

Was, bitte schön, war das denn gewesen?

4 thoughts on “Eric – zweiundvierzig

  1. Ich habe das Buch schon gelesen und bin mal wieder begeistert und sehr gespannt, wie es weiter geht! Das Cover ist auch wunderschön geworden?.

    Macht weiter so! Ich freue mich immer riesig, wenn es was neues von euch zu lesen gibt.

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