Esther – zwanzig

Esther – zwanzig

Ich beendete mein Gespräch mit Flo und ging zu dem jungen Mann, der mit bleichem Gesicht an der Wand lehnte.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte ich und steckte das Handy ein. „Soll ich einen Arzt rufen?“

Der Typ mit den kurzgeschnittenen Haaren schüttelte schwach den Kopf. „Ich bin eigentlich nur hier, um meinen Freund zu besuchen. Er hatte beim Zusammenbau von seinem Küchentisch einen kleinen Unfall. Hat sich einen Nagel durch den Daumen gejagt.“

„Autsch“, entfuhr es mir.

Der Typ lachte leise. „Ja, er ist echt kein guter Heimwerker. Ich hab ihm gesagt, er soll so Sachen das nächste Mal seiner Freundin überlassen.

„Seiner Freundin?“

„Na ja, ich bin leider auch kein guter Heimwerker“, gestand er grinsend. „Ich hab mir mal bei dem Versuch, einen Spiegel an der Wand zu montieren, ein Loch in den Fuß gebohrt.“

„Autsch“, sagte ich zum zweiten Mal.

„Zum Glück kein besonders großes Loch“, schwächte er ab und verzog im nächsten Moment schmerzverzerrt das Gesicht.

„Wirklich alles okay?“, fragte ich alarmiert und streckte den Arm nach ihm aus. „Ich hole besser einen Arzt. Schließlich sind wir hier in einem Krankenhaus.“

Er versuchte zu antworten, aber es kam nur ein unverständliches Gestammel heraus und ich fühlte, wie sich mein Magen vor Angst zusammenkrampfte. Sein linker Mundwinkel hing plötzlich ganz seltsam herab und im nächsten Moment stürzte er zu Boden.

 

Erschrocken sprang ich nach vor, um ihn aufzufangen, aber er war so schwer, dass es mir nur gelang, seinen Sturz abzubremsen. Hektisch sah ich mich um. Der Flur lag wie ausgestorben da und der junge Mann auf dem Boden begann unkontrolliert zu zittern.

„Ich … ich hole einen Arzt!“, rief ich und wollte aufspringen, aber in seinen Augen lag so eine Angst, dass ich es nicht über mich brachte, ihn allein zu lassen. Seine Hand tastete verzweifelt über den Flur und er schnappte immer wieder nach Luft.

„Kann uns hier mal jemand helfen?!“, brüllte ich mit all meiner Kraft durch den leeren Flur und griff nach der Hand des Mannes, der sich wie ein Ertrinkender an mir festklammerte.

„Es wird gleich jemand kommen, meine Cousine arbeitet hier als Ärztin, machen Sie sich keine Sorgen“, sprudelte es wie ein Wasserfall aus mir heraus, während ich seine Hand fest drückte.

Er sah so unglaublich jung aus, wie er da vor mir lag und ich strich ihm beruhigend über den Handrücken und gab tröstende Laute von mir, während ein Pfleger angelaufen kam und sich neben uns auf den Boden kniete. Innerhalb von dreißig Sekunden war der Flur voll mit Menschen, die sich um uns scharten. Der junge Mann hatte inzwischen das Bewusstsein verloren und ich rutschte auf den Knien zur Seite um Platz für die Pfleger und Ärzte zu machen, die sich um ihn kümmerten.

„Ich kenne ihn nicht“, sagte ich nun schon zum dritten Mal auf die Frage einer Krankenschwester. „Ich bin nur hier, um meine Cousine zu besuchen. Sie ist Ärztin. Er ist vor mir zusammengebrochen, ich kenne ihn nicht.“ Meine Stimme drohte wegzubrechen und ich hatte das Gefühl, jeden Moment in Tränen auszubrechen.

Schniefend wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen und sah zu, wie er auf ein Notfallbett gehievt und im Eiltempo weggebracht wurde. Vom Ende des Flurs sah ich Amy auf mich zukommen. Sie trug ihren weißen Ärztekittel und ließ sich neben mir auf dem Boden nieder.

„Komm, Esther“, murmelte sie und nahm mich vorsichtig an den Schultern, „lass uns von hier verschwinden. Ich lade dich auf einen Kaffee ein.“

„Mir schmeckt kein Kaffee“, gab ich leise zurück und rappelte mich hoch. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und mir war schwindlig.

„Dann eben Kamillentee“, sagte Amy ruhig und dirigierte mich aus dem Krankenhaus. „Solchen Situationen trotzt man am besten mit einer Tasse Tee und einem Stück Schokolade.“

6 thoughts on “Esther – zwanzig

  1. Ihr Lieben,
    ihr habt es bestimmt schon bemerkt: heute wäre doch eigentlich Eric-Tag!
    Aber wir sind derart im „Acht Sinne Band 7“-Fieber, dass wir es heute einfach durcheinander gebracht haben. Dafür gibt es nächste Woche zwei Mal Eric … und dann schon bald den 7. Band!!
    Viele Grüße und euch ein schönes WE!
    Carmen & Ulli

  2. Ihr Lieben,
    ja, kurz war ich verwirrt ;-), aber macht nichts. Ich freue mich wie verrückt auf Band 7 und hoffe, dass ihr gut voran kommt! Ich liebe Euren Schreibstil und lache und fiebere jedesmal mit den Romanhelden mit! Danke! Weiter so!

  3. Da ich den Dienstag kaum erwarten kann habe ich beschlossen noch mal alle vorherigen teile zu Lesen und hier stellte sich mir die frage: Ist der Typ später in der sinnlichen welt Marcus???
    Lg Helene

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Back To Top