Esther – 115

Esther – 115

Ich wollte gerade mit Flo den Vorlesungsaal verlassen, als mich unsere Dozentin beim Namen rief.

„Esther, haben Sie noch einen Moment für mich?“

Flo warf mir einen skeptischen Blick zu. „Was will denn Professor Kensington von dir?“

Ich warf Flo ebenfalls einen Blick zu, aber einen, der ihr bedeutete, dass ich auch keine Ahnung hatte und drehte mich zu Professor Kensington um. Dann ging ich die Stufen des Vorlesungssaals hinunter.

„Natürlich“, antwortete ich der Dozentin, während die anderen Studenten den riesigen Hörsaal verließen.

Meine Zivilrecht-Professorin lächelte mich mit ihren weißen Zähnen an. Auch wenn die Frau mit der burschikosen Frisur und den rotgeschminkten Lippen für ihre strengen Prüfungen bekannt war, mochte ich sie. Denn sie war zu den Studenten immer fair und sachlich und hatte mich nach dem Vorfall mit Mister Norris kein einziges Mal seltsam angesehen.

„Esther, Sie haben eine hervorragende Arbeit verfasst, Ihr Essay war wirklich ausgezeichnet“, sagte sie und lehnte sich an das Vorlesungspult aus poliertem Eichenholz. In ihren Händen hielt sie meine Arbeit und ich lächelte.

„Vielen Dank.“

„Dafür müssen Sie sich nicht bedanken, Sie haben es sich selbst verdient. Ihre Abhandlung ist scharfsinnig, faktenbasiert und zeigt mir, dass Sie einmal eine sehr gute Anwältin sein werden.“

Ich lächelte knapp, weil ich mich nicht noch einmal bedanken wollte und freute mich. Professor Kensington war eine angesehene Anwältin, die in einer der renommiertesten Kanzleien der Stadt arbeitete. Ein Lob von ihrer Seite war etwas ganz Besonderes, denn ich hatte sie bislang nicht oft loben gehört.

„Sie haben doch die Ambition, Anwältin zu werden, oder?“

„Selbstverständlich“, erwiderte ich schnell. „Es war schon immer mein Traum.“

„Das ist gut“, erklärte die Professorin und legte meine Hausaufgabe hinter sich auf dem Pult ab. „Denn ich habe schon viele Studenten kommen und gehen gesehen, aber Sie, Esther, haben etwas, das man im Blut haben muss.“

„Und was ist das?“

„Ein unumstößlicher Sinn für Gerechtigkeit.“

„Ich denke nicht, dass ich damit so alleine bin“, sagte ich, weil ich mich wirklich nicht als irgendetwas Besonderes sah.

Professor Kensington strich sich über ihre weiße Bluse. „Machen Sie nicht diesen Fehler.“

Ich runzelte die Stirn. „Was für einen Fehler?“

„Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Kennen Sie Ihre Stärken und Schwächen – und nutzen Sie sie.“ Sie schritt hinter das Vorlesungspult.

„Unsere Branche ist noch immer männerdominiert und wir brauchen starke Frauen, die bereit sind, für Ihre Interessen – und die von anderen einzustehen. Sie werden sich vielleicht denken, dass Sie nicht anders als ihre Kommilitonen sind, doch es besteht ein himmelweiter Unterschied dazwischen, ob man über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügt, oder ihn auch auslebt. Eine gute Anwältin zeigt sich vor allem dann, wenn viel für sie auf dem Spiel steht und sie dennoch der Gerechtigkeit den Vorrang gibt, auch wenn es unangenehme Konsequenzen für sie haben könnte.“

„Sie spielen auf den Vorfall mit Mister Norris an?“

Sie nickte. „Sein Verhalten war vollkommen inakzeptabel, und dennoch kam es zu mehreren dieser Vorfälle. Hätte schon die erste Studentin so entschlossen wie Sie gehandelt, hätte vielen weiteren das gleiche Schicksal erspart werden können. Es ging um einen Präzedenzfall, verstehen Sie? Mister Norris hat für sich einen Präzedenzfall geschaffen und weil er damit durchgekommen ist, hat er einfach weitergemacht. Ich mache es jeder einzelnen Frau zum Vorwurf, die nicht für sich und die zukünftigen Opfer eingestanden ist.“

Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Einstellung teilte.

„Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollte, es erklärt nur meine Motivation. Wie Sie wissen, arbeite ich bei Sorthys & Clark und bin dort einer der Partnerinnen. Ich weiß, dass Sie noch am Anfang Ihres Studiums stehen, aber aufstrebenden jungen Leuten gebe ich gern eine Chance. Haben Sie Interesse, ein Praktikum in meiner Kanzlei zu machen?“

5 thoughts on “Esther – 115

  1. Auch das noch!!!! Da wird Ester jetzt aber hart auf die Probe gestellt. Aber so wie Sie ist, wird das Ihre Einstellung zum Baby nicht ändern. Ansonsten müsste ich mich gewaltig in Ihr getäuscht haben. Das Leben ist doch erst liebenswert, wenn es aus der Reihe läuft…..oder?

  2. Oh wow! Das ist ein Angebot, dass Esther nicht ablehnen sollte. Allerdings würde das eine harte Probe für sein, denn die momentanen Umstände in ihrem Leben, lassen dafür wahrscheinlich kaum Platz…

  3. Mir wurde 3 Lilien von einer Freundin empfohlen und gleich danach habe ich 17 verschlungen. Ich finde es toll wie ihr schreibt auch wenn ich nicht mehr unbedingt zur Zielgruppe gehöre 😉
    Aber mit zwei kleinen Kindern ist es schön zwischendurch mal in eine andere Welt zu entfliehen…
    Habe den Blog Roman nun gelesen und war gerade ganz entsetzt keinen „weiter“ Button vorzufinden…
    Nun reihe ich mich in die Warteschlange ein 😉

    Vielen Dank für viele schöne Stunden!

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