Esther – 72

Esther – 72

„Ich bin nicht diejenige, die hier lügt“, sagte ich so beherrscht wie möglich und krallte meine Finger in die Armlehnen des Besucherstuhls.

Die Dekanin zog eine schwarze Augenbraue hoch. „Ich erlaube mir hier kein Urteil, dafür sind die Gerichte zuständig“, erklärte sie kühl. „Ich möchte Sie nur darüber in Kenntnis setzen, dass unsere Gesellschaft mit einem zunehmenden Anstieg falscher Vergewaltigungs- und Missbrauchsvorwürfen konfrontiert ist. Es reicht nicht mehr, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, noch dazu, wenn es sich bei diesem Jemand um einen respektierten und geachteten Lehrkörper an meiner Universität handelt.“

„Ich dachte, Sie wollen sich kein Urteil erlauben“, bemerkte ich kalt.

Sie blickte mich ungerührt an. „Die Zahlen sprechen für sich.“

Ich sah zwischen ihr und Mister Norris hin und her. „Von welchen Zahlen sprechen Sie?“

„Jene von Vergewaltigungsvorwürfen“, erklärte Mister Norris völlig ruhig. „Angeblich ist jede dritte Frau hierzulange schon einmal vergewaltigt worden – in Wahrheit ist es jedoch nur eine von acht.“

Nur eine von acht?“, wiederholte ich völlig fassungslos. „Ich denke, dieses Gespräch ist nun beendet.“ Mit diesen Worten stand ich auf und erwiderte den kühlen Blick der Dekanin. „Ich werde meine Anzeige mit Sicherheit nicht zurückziehen“, erklärte ich dann. „Weil ich nämlich die Wahrheit sage.“

Mister Norris lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fuhr sich durch die Haare. „Ich sagte Ihnen doch, dass sie gut ist“, wandte er sich dann an die Dekanin. „Sie war nicht umsonst eine meiner besten Studentinnen.“

Ich starrte ihn an und wusste nicht, was ich schlimmer fand: sein unglaubliches Talent sich zu verstellen – oder, dass er bereits in der Vergangenheitsform von mir als Studentin sprach.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen schnappte ich mir meine Tasche und verließ fluchtartig den Raum. Dabei rannte ich beinahe die Sekretärin über den Haufen, die offenbar hinter der Tür gelauscht hatte und stürmte hinaus auf den Gang.

Heiße Tränen brannten in meinen Augen, Tränen der Wut und der Fassungslosigkeit darüber, wie ein Mensch allein nur so niederträchtig sein konnte.

„Esther!“, hörte ich in dem Moment Flos Stimme und blinzelte rasch die Tränen weg. „Was ist passiert?“ Ihr vertrautes Gesicht tauchte vor mir auf und nun musste ich erst recht aufpassen, um nicht zu heulen zu beginnen.

„Norris tut so, als hätte ich die Anschuldigungen nur erfunden, um Eric zu schützen“, presste ich hervor und schüttelte den Kopf. „Er ist der geborene Lügner, Flo. Selbst ich hätte ihm geglaubt, wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre.“

Flo strich sich ihre rotblonden Locken hinters Ohr und schien angestrengt nachzudenken.

„Damit werden wir ihn nicht durchkommen lassen“, erklärte sie dann.

Ich schnaubte humorlos. „Im Moment weiß ich nicht, was ich dagegen tun soll.“

„Aber ich“, erwiderte sie entschieden. „Denn ich habe mich ein wenig umgehört, Esther. Und du bist nicht die Einzige, die von diesem perversen Schwein betatscht wurde.“

 

„Und du bist sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte ich Flo, als wir zwei Stunden später ein dunkles Treppenhaus hinaufstiegen.

„Laut meiner ehemaligen Mitbewohnerin ist das die richtige Adresse“, bestätigte Flo selbstbewusst und nickte.

„Und diese ehemalige Mitbewohnerin …“

„Ist eine enge Freundin von Claire“, sagte Flo. „Sie hat das damals live miterlebt, als Norris Claire aus der Uni geekelt hat.“

Ich schnaubte und konnte mir nicht mehr vorstellen, dass ich Liam Norris jemals sympathisch gefunden hatte.

„Nummer 8. Das ist ihre Adresse“, sagte Flo und klopfte selbstbewusst an die Tür.

„Und du denkst, sie ist zu Hause?“, fragte ich leise, während die Sekunden zwischen uns verrannen.

„Sie hat einen Handarbeitsblog und arbeitet viel von zu Hause aus“, flüsterte Flo zurück, als leichte Schritte zu hören waren, und kurz darauf eine blasse junge Frau mit langen braunen Haaren die Tür einen Spalt öffnete.

„Hallo“, sagte ich freundlich und fühlte eine plötzliche Nervosität, als ich das Misstrauen in ihrem Gesicht sah. „Ich heiße Esther und das ist Flo.“

Claire blickte stumm von mir zu Flo und runzelte nur kaum merklich die Stirn.

„Wir sind hier, weil wir dich etwas fragen wollten“, fuhr ich fort und konnte mir nicht vorstellen, dass unser Plan aufging. „Und zwar wollten wir dich fragen, ob du …“

„… uns reinbittest, denn wir sind Riesenfans von deinem Blog“, fiel mir Flo rasch ins Wort.

4 thoughts on “Esther – 72

  1. Kompliment an euch, ich verschlingen derzeit all eure Bücher, und werde immer ganz traurig wenn eines aus ist, ich lese sie derart gerne, dass ich gar nicht mehr aufhören kann!!! Kompliment an euch, macht weiter so!!!!

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