Esther – 73

Esther – 73

„Ihr interessiert euch für meinen Blog?“, fragte Claire ungläubig und runzelte noch stärker ihre Stirn.

„Ja, aber klar doch“, sagte Flo und ich nickte ebenfalls rasch. Claire starrte uns noch einen Moment lang misstrauisch durch den Türspalt an, dann öffnete sie die Sicherheitskette und ließ uns rein.

„Wie seid ihr denn auf meinen Blog gestoßen?“, wollte Claire wissen, während sie uns in ihre kleine, lichtdurchflutete Wohnung führte. In jeder Ecke standen Pflanzen und ich entdeckte einen großen Korb mit bunter Wolle sowie eine riesige gehäkelte Patchworkdecke auf dem Sofa.

„Ehrlich gesagt sind wir nicht wegen des Blogs hier“, gab ich zurück, da ich sie nicht länger anlügen wollte.

Claire erstarrte mitten in der Bewegung.

„Und wieso seid ihr dann hier?“, fragte sie und ihre großen braunen Augen blickten mich alarmiert an.

„Wir sind hier, weil wir hoffen, dass du uns hilfst, diesem Arsch Liam Norris das Handwerk zu legen“, sagte Flo unverblümt. „Denn du bist nicht die Einzige, die er belästigt hat, Claire.“

 

„Ich bin nervös“, flüsterte ich am nächsten Tag Flo zu, als wir gemeinsam die Treppe zur Uni hochgingen.

„Dazu gibt es keinen Grund“, erwiderte Flo entschieden, obwohl mir nicht entgangen war, dass sie ebenfalls unruhig an ihrer Unterlippe kaute. „Ich weiß, wir mussten Claire erst überzeugen, aber am Ende hatte ich wirklich den Eindruck, dass sie uns helfen wollte.“

Ich atmete tief durch und nickte. „Den Eindruck hatte ich auch“, erwiderte ich. „Aber wer weiß, ob sie das heute auch noch so sieht.“

„Natürlich wird sie das“, sprach mir Flo gut zu. „Mach dir keine Sorgen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Wann hast du deinen Termin?“

„Gleich jetzt um zehn“, murmelte ich und dachte daran, dass ich dafür sogar extra meine Schicht im Coffeeshop verschoben hatte. Was allerdings problemlos geklappt hatte – wahrscheinlich, weil Eric meinen Chef tatsächlich die 25.000 gezahlt hatte, um Greg feuern zu lassen.

„Esther? Alles okay?“, fragte Flo, als wir vor dem Büro der Dekanin ankamen. Ich straffte die Schultern und nickte.

„Ja“, sagte ich dann. „Alles bestens.“

„Lass dich nicht unterkriegen“, flüsterte Flo und nahm mich in den Arm.

Ich nickte und betrat nach kurzem Klopfen das Büro.

Die Dekanin und Mister Norris waren schon beide anwesend und unterhielten sich vertraulich miteinander, als ich den Raum betrat.

„Ah. Auf die Minute pünktlich“, bemerkte die Dekanin und streckte den Rücken durch. Heute trug sie ein taubenblaues Kostüm, das ihre schlanke Figur betonte. „Sie wollten mich und Mister Norris noch einmal sprechen. Ich bin gespannt, was Sie zu sagen haben.“ Die Dekanin strich sich beiläufig durch ihre elegante Kurzhaarfrisur und blickte mich auffordernd an.

„Ich wollte Ihnen sagen, dass ich nicht die Einzige bin“, erklärte ich dann mit fester Stimme. „Es gibt noch eine andere junge Frau, die von Mister Norris belästigt wurde.“

Die Dekanin starrte mich überrascht an und es war ihr anzusehen, dass sie mit einer anderen Antwort gerechnet hatte. Rasch huschten ihre Augen zu Mister Norris, der völlig entspannt wirkte.

„Ist das so“, reagierte er gelassen. „Und wo ist diese ominöse junge Frau?“

„Sie verspätet sich eventuell etwas, aber sie hat versprochen, zu kommen“, erwiderte ich so selbstbewusst wie möglich. Dabei klopfte mein Herz jedoch wie wild in meiner Brust und ich hoffte, dass Claire wirklich auftauchte, und mich nicht im Stich ließ.

 

„Also mir reicht es jetzt“, erklärte Mister Norris fünfzehn Minuten später und stand auf. „Wen immer Sie da aus dem Hut zaubern wollten, es hat ganz offensichtlich nicht funktioniert.“

„Warten Sie!“, sagte ich, aber mein ehemaliger Dozent schüttelte den Kopf. „Nein, Esther. Wir haben lange genug gewartet.“

„Das sehe ich ebenso“, sagte die Dekanin kalt, als ein Klopfen an der Tür ertönte und kurz darauf Claire in Begleitung eines grauhaarigen Mannes das Büro betrat.

Bei ihrem Anblick fühlte ich einen riesengroßen Fels von meiner Brust fallen.

„Endlich“, seufzte ich leise. „Ich dache, du kommst nicht.“

„Ich musste noch etwas erledigen“, gab sie zurück und richtete ihre Augen voller Abscheu auf Mister Norris.

„Ich … ich kenne Sie“, sagte die Dekanin langsam und stand auf. 

Claire lächelte bitter und nickte. „Natürlich kennen Sie mich. Ich habe auch hier studiert, bevor Mister Norris begonnen hat, mich zu belästigen.“ Claire machte eine kurze Pause, in der mein ehemaliger Dozent so bleich wie die Wand wurde. Das Erschrecken war in seinem Gesicht abzulesen. „Und ich habe extra meinen Anwalt mitgebracht, weil ich die Kontaktdaten weiterer Mädchen kenne“, fuhr sie fort. „Denn was er mit mir abgezogen hat, hat er auch mit anderen Studentinnen gemacht.“

 

Nach dem Termin bei der Dekanin fühlte ich mich einfach wunderbar. Mister Norris war mit sofortiger Wirkung suspendiert worden und kurz darauf hatte Eric angerufen und mich gefragt, ob wir uns am Abend treffen könnten. Noch immer euphorisch von meinem Sieg hatte ich zugesagt und strahlte nun übers ganze Gesicht, als ich mich mit ihm in dem kleinen Restaurant traf, das er für uns ausgesucht hatte. Eric trug eine schwarze Jeans mit einem schwarzen T-Shirt und wirkte ungewöhnlich ernst, als wir uns begrüßten.

„Was ist los?“, fragte ich, da mir seine Stimmung seltsam vorkam. „Du scheinst nicht in Feierlaune zu sein.“

Eric atmete tief ein und schüttelte den Kopf.

„Nein“, knurrte er dann und wirkte, als ob ihn seine nächsten Worte eine riesengroße Überwindung kosten würden. „Esther, es freut mich, dass der Arsch bekommt, was er verdient – aber ich muss dir was sagen“, fuhr er dann fort. „Es hat … mit meiner Mutter zu tun.“

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