Esther – 74

Esther – 74

Ich wusste nicht, wie er es anstellte, aber normalerweise hätte ich so etwas nicht getan. Ich war nicht prüde, aber bei Tim war es mir nie so gegangen, dass ich ihm von Hier auf Jetzt so nahe sein wollte wie es nur ging, und alles andere einfach seine Bedeutung verlor.

Ich sah Eric an und mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich wollte ihn spüren, seine Lippen auf meinen, und die Art wie er meinen Blick erwiderte, setzte mich dermaßen unter Strom, dass ich das Kribbeln im ganzen Körper fühlen konnte.

„Na“, sagte er, als wir uns wieder angezogen hatten. „Sollen wir jetzt umdrehen und in meiner Suite weitermachen?“ Dabei funkelten mich seine blauen Augen herausfordernd an und es kostete mich etwas Überwindung, so zu reagieren, wie ich es für richtig hielt.

Ich schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“

„Sicher?“, fragte er sexy und am liebsten hätte ich mich mit ihm für die nächste Woche irgendwo eingesperrt, aber darum ging es jetzt nicht.

Es ging um seine Familie.

„Wir fahren weiter“, sagte ich selbstsicher. Vielleicht einen Hauch zu selbstsicher, denn Eric grinste mich nur an. Ich konnte es nicht leiden, aber irgendwie schien er mich zu durchschauen.

„Gut, bevor du jetzt wieder streng mit mir wirst.“

Ich verdrehte die Augen. „Fahr los, Eric.“

Er drehte den Zündschlüssel um. „Ihr Wunsch ist mir Befehl.“

 

Die Landschaft zog an uns vorbei und ich lehnte den Kopf gegen die Scheibe.

„Erzähl mir von deiner Mutter“, sagte ich irgendwann, auch wenn ich damit Gefahr lief, dass er das Thema abblockte.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte er und setzte den Blinker, um auf die rechte Spur zu wechseln. „Sie ist meine Mutter und sie ist gegangen. Das ist die Geschichte.“

Ich sah ihn an. „Das ist keine schöne Geschichte.“

Er nickte. „Mein Leben ist keine schöne Geschichte“. Er sagte es mit einer tiefen Traurigkeit, die mir noch einmal klar machte, was er früher durchgemacht hatte. Automatisch kam das Bild des Jungen zurück, der seine wunderschöne Zeichnung gegen mein Pausenbrot getauscht hatte und ich versuchte mich zu erinnern, was ich damals gesehen hatte. Einen Jungen, der Hunger hatte, einen Jungen, der einsam war und der auch schon eine Mauer hochgezogen hatte, damit ihn niemand mehr verletzen konnte.

„Es tut mir leid“, sagte ich.

„Das muss es nicht“, erwiderte er und seine Stimme klang viel zu nüchtern.

„Doch, wenn ich damals vielleicht mehr mit dir geredet hätte“, sagte ich, „wenn ich verstanden hätte, wie es dir wirklich ging …“

Eric schnaubte. „Esther“, fiel er mir ins Wort. „Du hast mir damals mehr gegeben, als ich erwartet hatte. Du hast mir einfach so dein Brot angeboten, ohne etwas von mir zu wollen. Du warst damals noch ein Kind … und dennoch schon selbstlos.“

Er schluckte und für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob er weiterreden würde. „Es war einfach die beschissene Hölle zu Hause, es war schon schlimm, als sie noch da war, aber als sie wegging, da war es dann nur noch unerträglich.“

Eric stieg aufs Gas und ich hielt mich unwillkürlich an der Beifahrertür fest, obwohl ich mich bei ihm sicher fühlte, egal wo und wann. Als er den LKW überholt hatte, drosselte er die Geschwindigkeit wieder.

„Wie war sie so?“, fragte ich und hoffte, dass ich damit nicht zu weit ging – aber vielleicht tat es ihm auch gut, endlich mal mit jemandem zu sprechen. Denn sonst tat er das sicher nicht und irgendwie hatte ich das Gefühl, etwas zu ihm durchdringen zu können.

Eric fuhr sich durch seine dunklen Haare. „Sie versuchte, sich ihre Traurigkeit nicht anmerken zu lassen. Sie summte oft und wippte mit dem Fuß, so als könne sie das beschissene Glück einfach in unser Leben lassen, wenn sie es nur hart genug versuchte.“ Sein Blick verlor sich für einen Augenblick auf der Straße und ich konnte mir nicht vorstellen, welche Erinnerungen gerade in ihm hochkamen.

„Aber irgendwann“, sagte er und seine Stimme wurde leiser, „irgendwann hat sie die Sache mit dem Glück einfach nicht mehr versucht.“

 

7 thoughts on “Esther – 74

  1. Er tut mir soooo unendlich leid? ich wünsche BEIDEN eine bessere Zukunft aber ich schreibe ja nicht? eine wundervolle und trotzdem traurige Story

    1. Liebe Sonia,

      das verstehen wir! Für den letzten Teil der Acht Sinne können wir Dir leider noch kein verlässliches Datum nennen, da es auch von Faktoren abhängt, die wir nicht in der Hand haben. Aber wir geben euch auf alle Fälle Bescheid, sobald wir hier mehr sagen können und freuen uns schon sehr auf das Finale, da wir die beiden auch schon vermissen 🙂

      Alles Liebe, Ulli & Carmen

    1. Liebe Steffi,

      es freut uns sehr, dass Dir der Blogroman gefällt! Für den letzten Teil der Acht Sinne können wir leider noch kein verlässliches Datum nennen, da es auch von Faktoren abhängt, die wir nicht in der Hand haben. Aber wir geben euch auf alle Fälle Bescheid, sobald wir hier mehr sagen können und freuen uns schon sehr auf das Finale, da wir die beiden auch schon vermissen!

      Alles Liebe, Ulli & Carmen

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