Esther – acht

Esther – acht

Der Vorlesungssaal war groß und leicht abgedunkelt. Ich blieb an der Türschwelle stehen und atmete tief durch. Genau so hatte ich es mir vorgestellt, genau so sollte es riechen und genau so sollte es sich anfühlen: mein neues Leben als Studentin, weit weg von Tim und – Stopp.

Nicht an Tim denken. Kurz tauchte das Bild von dem Typen, dem ich gerade eben Kaffee über das Hemd geschüttet hatte, vor meinem geistigen Auge auf und ich schüttelte entschieden den Kopf. An den würde ich jetzt auch nicht denken.

Ich rutschte auf einen freien Platz in den mittleren Rängen und legte meine Unterlagen auf den Tisch. Die anderen Studenten unterhielten sich leise miteinander und ich warf einen scheuen Blick durch den Raum.

Ein wenig erinnerte es mich an den ersten Tag in der Grundschule, wenn man noch niemanden kannte. Ich hatte ganz vergessen, wie doof sich das anfühlte.

Die Tür ging auf und der Typ aus dem Flur kam herein. Sein Hemd klebte ihm nach wie vor am Körper und er ging nach vorne zum Podium, wo er seine Tasche und den fast leeren Kaffeebecher ablegte. Dann glitten seine Augen über die Reihen, fanden meine und er lächelte mich an.

Mir schoss das Blut in die Wangen und ich hoffte, dass man es bei dem Dämmerlicht nicht sehen konnte. Rasch schlug ich die Augen nieder.

„Hey, da bist du ja“, flüsterte eine weibliche Stimme hinter mir und im nächsten Moment ließ sich Flo auf den freien Platz neben mir fallen und grinste mich verschwörerisch an. „Na, schon auf Männerfang?“

„Was?“, zischte ich und errötete noch einen Tick mehr. „Wovon zum Teufel redest du?“

„Ich spreche von unserem schnuckeligen Dozenten.“ Sie beugte sich vor und ich roch den fruchtigen Kaugummi, den sie im Mund hatte. „Er scheint auf dich zu stehen.“

Ich warf einen verstohlenen Blick nach vorne zum Podium und sah gleich wieder weg. Er hatte zufällig gerade wieder lächelnd in meine Richtung gesehen.

„Er sieht mich nur an, weil ich schuld daran bin, was mit seinem Hemd passiert ist“, sagte ich und strich über den Ring an meinem Finger, der mich an zu Hause erinnerte.

Flo riss die Augen auf. „Sag bloß. Dir ist schon bewusst, dass das eine von den Geschichten ist, die man noch in fünfzig Jahren seinen Enkeln erzählen kann?“ Sie verstellte ihre Stimme, bis sie nach einer alten Omi klang. „Hab ich euch schon erzählt, wie ich damals eurem Opa Kaffee übers Hemd geschüttet habe, weil ich ihn so gern kennenlernen wollte und nicht wusste, wie?“

„Flo, bitte!“, zischte ich ihr zu. „Das ist überhaupt nicht wahr.“

Sie lachte. „Wer sagt denn, dass eine gute Geschichte wahr sein muss? Außerdem dachte ich, du willst Anwältin werden, da darf man es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen.“

Ich verdrehte die Augen und richtete meine Aufmerksamkeit auf den Dozenten. Er ging gerade zu den Schaltern an der Wand und machte das Licht an.

„Hallo“, sagte er in den Saal hinein und die Gespräche ringsum verstummten. „Ich hab mir gedacht, ich wecke euch mal aus eurem Dämmerschlaf.“ Er grinste sympathisch und ein paar Studenten lachten. „Herzlich willkommen beim Zivilrecht. Mein Name ist Liam Norris und ich werde versuchen, euch das Bürgerliche Recht so gut ich kann näherzubringen. Leider erschließt es sich gerade Studienanfängern eher langsam, allerdings kann ich Sie trösten: Sie sind nicht allein. Seit gut hundert Jahren ist es keinem Jurastudenten erspart geblieben. Machen wir also das Beste daraus.“

Er lächelte in meine Richtung und ich lächelte spontan zurück.

Ach, und er war so ein schmucker Kerl“, flüsterte Flo mit ihrer Oma-Stimme.

„Sei still“, flüsterte ich zurück. „Ich bin nur hier, um zu lernen. Außerdem habe ich von Männern die Nase voll.“ Auf meiner Liste stand: Keine neue Beziehung eingehen – und daran würde ich mich zum Teufel nochmal halten.

Flo lachte leise. „Ja klar, Süße. Rede es dir gerne ein, wenn es dir dann besser geht. Aber heute Abend steigt eine Party, zu der ich dich mitnehme, und ich verspreche dir, dass du dort Spaß haben wirst – ob du nun willst oder nicht.

3 thoughts on “Esther – acht

  1. Bis jetzt habe ich alles mit Spannung verfolgt, ich bin immer wieder entzückt und gefesselt. jedesmal habe ich das Verlangen, es sollte doch weiter gehen. Wie kann man so toll schreiben und ein im Bann ziehen. Toll, einfach genial.

    Viele liebe Ostergrüße
    Susi

    1. Liebe Susi, vielen Dank für das verfrühte Ostergeschenk 🙂 Hach, soetwas hören wir gerne!! Viele liebe Ostergrüße zurück, Carmen & Ulli

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