Esther – achtundvierzig

Esther – achtundvierzig

Ich blieb stark, während mich mein Vater mit dem Auto zum Bahnhof brachte und keinen Ton darüber verlor, was zwischen Eric und mir vorgefallen war. Ich blieb auch stark, als er verkündete, noch mit mir auf den Zug zu warten, obwohl es mir lieber gewesen wäre, wenn er einfach wieder nach Hause gefahren wäre. Ich riss mich zusammen und redete über ganz normale Dinge mit ihm, während wir Seite an Seite auf dem Bahnsteig standen und das Thema Eric mit aller Kraft zu umschiffen versuchten. Und ich schaffte es sogar, ihn anzulächeln, als mein Zug kam und ich unendliche Erleichterung verspürte, endlich für ein paar Stunden allein zu sein.

In meinem Waggon suchte ich mir einen Platz am Fenster und steckte mir die Kopfhörer meines Handys in die Ohren, weil ich keine Lust hatte, von irgendjemandem angesprochen zu werden. Dann drückte ich auf Shuffle bei meiner Playlist und erstarrte, als ich Erics Stimme hörte. Der Zug setzte sich in Bewegung und der Bahnsteig wurde immer kleiner.

Es tat weh. Es tat so verdammt weh, dass er gegangen war, und während die Wiesen und Felder draußen an mir vorbeiflogen, merkte ich, wie meine Mauer zu bröckeln begann. Eric sang von der Liebe, er tat es mit so einer unglaublichen Sehnsucht in der Stimme, dass ich mich darin total wiedererkannte, und da ich allein in dem Abteil saß, hörte ich irgendwann auf, stark zu sein. Ich hörte auf damit, mir vorzumachen, dass es schon okay war, dass er abgehauen war, denn so fühlte es sich nicht an. Es war alles andere als okay, es tat einfach nur weh, und ich ließ zu, dass die Tränen kamen.

Auf dem Weg zu meiner Wohnung fühlte ich mich unfassbar leer. Meine Beine fanden von alleine ihren Weg und ich war so sehr in meiner eigenen Welt versunken, dass ich nur aus dem Augenwinkel eine schwarze Gestalt wahrnahm, die sich mir plötzlich in den Weg stellte. Ich zuckte zurück und dann erkannte ich, dass es Eric war. Er musste auf der Straße vor meiner Wohnung auf mich gewartet haben, und diese Tatsache ließ ein wildes Glücksgefühl in mir hochsteigen, gepaart mit der Angst, dass ich es ihm zu leicht machte, mich zu verletzen.

„Deine Eltern haben gesagt, dass du nach Hause gefahren bist“, sagte er und seine Stimme klang irgendwie anders als sonst, aber ich kam nicht dahinter, was es war.

„Meine Eltern sollten nicht so viel reden“, sagte ich müde und rückte den Tragegurt meiner schweren Tasche auf der Schulter zurecht.

„Doch, Esther. Ich bin froh, dass sie mit mir geredet haben. Und ich … ich muss auch mit dir reden.“

„Ach, musst du das?“, murmelte ich und überlegte, ob ich mich einfach an ihm vorbei zu meinem Haustor drängen sollte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren schon wieder ein paar Leute stehen geblieben und gafften neugierig rüber, und hinter Eric sah ich zwei Jugendliche auf der Straße stehen, die hemmungslos ihre Handys auspackten und auf uns draufhielten.

Eric folgte meinem Blick und sein kantiges Gesicht verspannte sich, während er die Leute ringsum hasserfüllt ansah. „Wir sollten in deine Wohnung gehen“, meinte er gepresst.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, Eric. Ich sollte in meine Wohnung gehen. Ich will nicht, dass du mitkommst.“ Ich hatte einfach keine Lust darauf, dass er kam und ging, wie es ihm passte, und ich nie sicher war, ob er jemals bleiben würde.

„Das meinst du nicht so.“

„Ich meine es genau so.“ Ich zwang mich, ihm weiter in die Augen zu sehen und hoffte, dass ich nicht zu verheult aussah. „Ich kann das nicht“, flüsterte ich dann.

„Was genau kannst du nicht?“

Hinter mir hörte ich eine Frau überrascht quieken und irgendwie wurde mir das alles gerade zu viel. „Das alles“, entgegnete ich schwach.

Er starrte mich an und ich wusste nicht, was er als nächstes tun würde, ich wusste ja nicht mal, was ich als nächstes tun würde.

„Tu das nicht“, sagte er. Es waren nur drei Worte, aber sie brachten mich dazu, beinahe wieder in Tränen auszubrechen. Er griff nach meiner Hand, aber ich wich mit einer schnellen Bewegung zurück. Ich wollte nicht, dass er mich berührte. Es war so schon schwer genug. Und wie er jetzt so vor mir stand, da wurde mir bewusst, dass ich für dieses Nähe-und-Distanz-Spiel nicht geschaffen war. Nach dem Unfall und der Sache mit Tim brauchte ich Sicherheit.

„Scheint die Neue zu sein“, zischte eine Stimme von der anderen Straßenseite und ich drehte ungläubig den Kopf in diese Richtung.

„Haltet eure verfluchte Klappe!“, fauchte Eric und wandte sich zu den Leuten um, die auf der anderen Seite standen. Ich nutzte den Moment, um mich an ihm vorbeizudrängen und lief direkt in die Arme eines Typen, der mir mit einem aufgesetzten Grinsen den Weg versperrte.

„Hey, bist du seine neue Freundin? Bist du bei ihm, weil er so nett ist oder wegen der Kohle?“, fragte er mich und hielt mir sein Handy direkt ins Gesicht.

„Lassen Sie mich vorbei“, flüsterte ich und wollte mich an ihm vorbei zu meiner Eingangstür schieben, aber er ließ mich nicht. „Komm schon“, grinste er. „Mir kannst du es doch sagen. Wirst du von ihm hart gevögelt?“

Im nächsten Moment bekam der Typ so einen festen Stoß von Eric, dass er drei Schritte zurückstolperte und gegen einen Laternenmast knallte.

„Sag mal, geht’s dir noch gut?“, rief der Typ und hielt sein Handy auf Eric. „Du bist genau so ein Arschloch, wie sie in der Zeitung schreiben, aber ich hab alles auf Film, du verfluchter Wichser!“ Ich lief zu meiner Haustür und wollte einfach nur noch weg. „Und ich weiß jetzt auch, wo die Bitch wohnt, die du knallst“, setzte der Typ nach und dann hörte ich nur noch, wie Eric sich mit einem Knurren auf den Typen stürzte.

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