Esther – dreiundzwanzig

Esther – dreiundzwanzig

Nachdem wir uns einparfümiert hatten, verließen wir die Wohnung und begegneten der Nachbarin im Treppenhaus, als diese gerade nach Hause kam.

„Die Damen scheinen etwas vorzuhaben“, sagte sie und musterte uns.

„Wir gehen auf ein Konzert. Von NEBEN“, erklärte Flo stolz und lachte.

„Ah. NEBEN. Das ist doch die Band mit diesem Eric Adams, der Typ, der ständig in der Zeitung steht? Ein übler Kerl“, meinte die Nachbarin.

„Das sage ich auch immer“, entgegnete ich und sah Flo dabei bezeichnend an, die nur mit den Schultern zuckte und ihr schwarzes Kleid etwas nach oben zog.

„Aber die Üblen sind doch immer die Besten“, lachte Flo aufgekratzt und zu meiner Überraschung stimmte meine Nachbarin mit ein. „Auch wahr. Bei denen macht es schnell mal Boom-Tschakka-Boom – aber sie brechen einem auch leicht das Herz, also aufpassen und es leise angehen“, sagte sie an mich gewandt und ihr Mundwinkel zuckte.

Ich strich mir meine blonden Haare glatt. „Ich gehe heute überhaupt nichts an“, sagte ich, als Flo mich mit sich nach draußen zog.

„Wir müssen los, komm schon“, sagte sie aufgeregt. Es war irgendwie süß, sie so nervös zu sehen.

„Dann einen schönen Abend! Und schön leise sein, wenn Sie nach Hause kommen“, rief mir die Nachbarin hinterher, als ich mich verabschiedete.

 

Wir fuhren mit dem Bus zu der Konzerthalle und ich war erleichtert, dass Flo nicht schon Stunden vor dem Konzert dort sein wollte und wir somit nicht als totale Groupies identifiziert wurden. Vor der Konzerthalle hatte sich eine lange Schlange gebildet; es war eine bunte Mischung aus Männern und Frauen. Die meisten waren in unserem Alter. Einige der Frauen waren besonders aufreizend angezogen, andere trugen Schilder, wo „Eric, ich will ein Kind von dir!“ und „Eric, heirate mich!“ draufstand.

„Oh Shit“, sagte ich und deutete auf einen dünnen Typen mit Heiratsantragsposter, „wir haben das Schild vergessen.“

Flo sah mich vorwurfsvoll an. „Das konnte nur passieren, weil ich dich so lange schminken musste.“ Sie schüttelte den Kopf. „Dann müssen wir uns eben eines klauen. Du haust den Typen um und ich renne, okay?“

Ich runzelte die Stirn. „Warum muss ich den Typen umhauen? Ich bin eine schnelle Läuferin und gegen Gewalt.“

„Aha“, antwortete Flo schmunzelnd, „ich soll also die Drecksarbeit machen und du läufst dafür Eric direkt in die Arme – kannst du vergessen, Esther. Bei dem Typen hört sich die Freundschaft leider auf.“ Sie kicherte.

Ich seufzte und hob eine Hand zum Schwur. „Okay, ich verspreche dir hiermit hoch und heilig, dass ich die Finger von deinem kaputten Eric lassen werde – Ehrenwort.“

Flo kniff die Augen zusammen und fixierte mich für einen Moment, bevor sie mich wieder normal ansah. „Gut, dann können wir Freunde bleiben.“

Wir lachten und rückten in der Schlange auf, bis wir durch die Kartenkontrolle gelangten, uns zwei Flaschen Bier schnappten und uns einen guten Platz in der Masse sicherten. Die Atmosphäre war aufgeladen und angespannt, während die Bühne noch leer und einsam war.

Die Halle, in der wir uns befanden war riesig und aufgeheizt von den scharrenden Leuten. Ich zog mir den Pullover aus und stopfte ihn in meine Tasche. Dann machte ich ein Foto von Flo, die sich auf die Zehenspitzen gestellt hatte, um mehr zu sehen. Als die Lichter angingen und die Vorband zu spielen anfing, begannen die Leute zu jubeln und sich auf NEBEN einzustimmen. Die Musik der Vorband war gut, sie war etwas leichter und weniger tragisch als von NEBEN, aber Flo zappelte dennoch ungeduldig neben mir.

„Hey, wann sind die endlich fertig“, flüsterte sie mir ins Ohr.

„Kannst du es denn gar nicht mehr erwarten?“, feixte ich.

„Natürlich nicht“, sagte sie und jubelte, als sich die Vorband verabschiedete und das Licht wieder gedimmt wurde, „gleich geht es los, gleich geht es los!“ Sie grinste übers ganze Gesicht.

 

Die Scheinwerfer gingen wieder an und beleuchteten die Bühne. Es wurde ganz still im Saal. Grauer Nebel waberte über die Bühne und nach und nach kamen die Bandmitglieder heraus. Die Masse grölte und klatschte und als Eric Adams als letzter auftrat, rasteten einige völlig auf.

„Hallo ihr“, sagte er mit tiefer Stimme und die Frauen begannen zu kreischen. Seine schwarzen Haare fielen ihm in die Stirn.

„Heute hatte ich einen echt scheiß Tag“, er hielt das Mikro lässig in der Hand, „vielleicht wisst ihr, wovon ich rede.“ Die Leute begannen zu applaudieren. „Aber jetzt und hier, jetzt gleich geht es nur um die Musik. Das hier ist ein neuer Song“, sagte er etwas sanfter, „genießt den Abend.“

Danach setzte die Musik ein – Gitarre, Schlagzeug und Keyboard; sie spielten zusammen eine wunderschöne Melodie und dann begann er zu singen, seine Stimme klang weich und traurig zugleich und als er zum Refrain des Songs kam und von Schatten und Flügeln sang, spürte ich, wie mir eine Träne über die Wange rollte.

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