Esther – einunddreißig

Esther – einunddreißig

Ich starrte auf die Stelle, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte und es dauerte ein paar Minuten, bis sich mein Herzschlag wieder beruhigte. Tausend Gedanken wirbelten in meinem Kopf herum, mit tausend Fragen, auf die ich keine Antwort kannte.

Warum hatte er nicht angerufen? Warum war er stattdessen dem Zug hinterhergerannt und warum hatte er so verzweifelt gewirkt? War es überhaupt ich gewesen, zu der er gerannt war? Oder musste er den Zug aus einem ganz anderen Grund erwischen? Und wieso, wieso fühlte es sich an, als hätte ich gerade die Chance meines Lebens verpasst?

 

Fünf Stunden später blieb ich auf dem Kiesweg vor meinem Elternhaus stehen und schob alle Fragen nach dem Fremden mit den blauen Augen vorläufig beiseite.

Ich war wieder zuhause.

Mein Blick glitt durch den Garten und ich fühlte, wie mein Herz ganz leicht wurde bei den Erinnerungen, die mich dabei erreichten. Dort drüben hatte ich mit Papa nach unserem Umzug hierher ein Baumhaus gebaut, in dem Schuppen hatte ich mein geliebtes gelbes Fahrrad bekommen und hinter dem Schuppen meinen ersten Kuss. Und nun war ich schon selbst erwachsen, lebte seit ein paar Monaten in einer anderen Stadt und besuchte meine Eltern nur noch zu besonderen Anlässen. Die Zeit lief rasend schnell dahin.

 

Drinnen empfing mich der Geruch nach Schokoladentorte und ich schnupperte genießerisch, während ich dem Duft in die Küche folgte, wo meine Mutter gerade damit beschäftigt war, die Kerzen in die Schokoglasur zu stecken.

Obwohl ich ganz leise war, fuhr sie bei meinem Eintreten herum und ein sanftes Lächeln überzog ihr Gesicht.

„Esther, mein Schatz. Wie schön, dass du da bist.“ Sie zog mich in eine liebevolle Umarmung, bevor sie mich auf Armeslänge von sich schob und aufmerksam musterte. „Aber was ist denn das für ein Strahlen in deinen Augen? Sag bloß, du bist verliebt.“

Ich fühlte, wie mir die Röte in die Wangen schoss, während es im selben Moment an der Tür klingelte.

Meine Mutter lächelte verschwörerisch. „Oh das sind sicher deine Tante und dein Onkel. Aber keine Sorge, meine Lippen sind versiegelt.“

 

Während meine Mutter aufmachen ging, schnappte ich meine Reisetasche, lief die Treppe hoch und betrat mein altes Zimmer. Obwohl ich erst vor wenigen Monaten hier ausgezogen war, fühlte es schon an, als würde es zu einem anderen Leben gehören. Ich setzte mich auf mein altes Bett und streckte die Beine aus, während mein Blick über die Schränke und meinen Schreibtisch glitt. Wie oft hatte ich hier davon geträumt, Anwältin zu werden.

Dann schwenkten meine Augen über meine Kohlezeichnungen an den Wänden, die zwar ambitioniert waren, aber bei weitem nicht an das eine Bild heranreichten, das ich vor vielen Jahren von einem dünnen Jungen im Tausch gegen mein Pausenbrot bekommen hatte. Kurz nachdem er mir das Bild geschenkt hatte, waren wir hierher gezogen und ich hatte mich immer gefragt, was wohl aus ihm geworden war. Von unten ertönte das hysterische Kläffen des Pudels meiner Tante und ich öffnete seufzend meine Reisetasche, um mich rasch umzuziehen.

 

Als ich die Treppe runterkam, klopfte Tante Melody Onkel Augustus gerade auf die Finger, weil er sich an den vegetarischen Häppchen meiner Mutter vergreifen wollte.

„Esther!“, tönte ihre schrille Stimme durch das Haus, die kein bisschen zu ihrem Namen passte. „Da bist du ja endlich.“ Sie breitete die Arme aus und mich traf eine Wolke ihres schweren Parfüms, als sie mit lauten Schmatzgeräuschen rechts und links neben meiner Wange in die Luft küsste. „Wie geht es dir, Kind?“

„Danke, Tante Melody, mir geht es sehr gut“, antwortete ich freundlich. „Und wie geht es euch?“

Mein Onkel drückte mir nur einen trockenen Kuss auf die Wange und winkte mir kurz zu. „Ich schau mal nach, wo das Geburtstagskind ist.“

„Ja ja, du schaust doch nur nach, wo die Hausbar ist“, keifte Melody und ihr Pudel stimmte mit ein.

Onkel Augustus erwiderte nichts darauf und verzog sich rasch ins Wohnzimmer, wobei er dem Tablett meiner Mutter noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick zuwarf.

„Die sind für später, Augustus“, mahnte Tante Melody und beobachtete seinen Abgang mit Argusaugen.

Als er weg war, wandte sie sich mir zu. „So, jetzt sind wir unter uns. Jetzt können wir endlich reden.“

So wie sie „reden“ sagte, bekam ich ein ungutes Gefühl.

„Was meinst du?“, fragte ich.

„Natürlich über Tim!“, rief sie. „Ich habe gehört, ihr habt euch getrennt?“ Ihre Knopfaugen fixierten mich gespannt.

„Das stimmt – nun, genauer gesagt, habe ich mich von ihm getrennt“, erwiderte ich sachlich.

Melody klappte der Mund auf. „Nein, wirklich?“, rief sie aus. „Na, zum Glück bist du ja jetzt hier, um diesen Fehler wieder auszubügeln.“

Ich traute meinen Ohren nicht. „Was meinst du mit Fehler?“

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