Esther – elf

Esther – elf

„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, brummte meine Nachbarin, die mich in ihr Wohnzimmer dirigiert hatte. Sie reichte mir einen nassen Lappen. „Schön draufdrücken.“

Ich gehorchte ihr stumm, während sie in einen anderen Raum ging und mit einer Schüssel Eiswürfel zurückkam. Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber von mir und packte die Eiswürfel in einen weiteren Lappen, den sie mir gab.

„Damit sollte es nicht mal eine Schwellung geben“, erklärte sie, rümpfte die Nase und sah mich vorwurfsvoll an. „Ihr Männerbesuch war ganz schön laut.“

Ich drückte die eingepackten Eiswürfel gegen meine Stirn und betrachtete das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer, das so gar nicht zu meiner unfreundlichen Nachbarin passte.

Die hellgrünen Vorhänge harmonierten gut mit dem hellen Holzboden und der grauen Couch. Ihre Wohnung schien ähnlich geschnitten zu sein wie meine, nur war ihre natürlich weitaus hübscher.

„Das war nicht mein Männerbesuch“, erklärte ich. „Also er kam schon wegen mir, aber er war nicht eingeladen.“

„Männer“, fauchte die Nachbarin, von der ich nicht einmal den Namen kannte, stand auf und schenkte Cognac in zwei Gläser, die auf einer grauen Kommode standen.

„Hier, trinken Sie das“, befahl sie und hielt mir ein Glas entgegen.

Ich wollte schon ablehnen, aber da ich Angst vor ihrer Reaktion hatte, zögerte ich einen Moment.

„Runter damit“, befahl sie und lächelte grimmig. „Gegen Männer gibt es nur zwei Mittel: Abstinenz oder Alkohol.“

Sie kippte den Cognac hinunter und ich tat es ihr gleich. Der Alkohol brannte in meiner Kehle und begann, mich von innen zu wärmen.

„Also, haben Sie auch einen Mann?“, fragte ich, obwohl ich bei ihr eher auf Abstinenz tippte.

„3 Jahre“, sagte sie und sah mich an. Ihr Blick wirkte plötzlich weicher.

„Wie bitte?“

„Seit 3 Jahren ist er tot“, erklärte sie etwas leiser.

„Das tut mir leid“, murmelte ich. „Ich … es tut mir leid, ich wollte das Thema nicht ansprechen.“

Die Nachbarin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Schon gut. Das Thema Mann lässt sich bei einer Frau nur schwer vermeiden. Wer war der laute Typ mit dem Baseballschläger?“

Ich presste den Eisbeutel weiterhin gegen meine Stirn, auch wenn sie sich schon ganz kalt und feucht anfühlte, aber es tat gut, irgendetwas zu tun und nicht nur einfach hier rumzusitzen.

„Mein Exfreund“, sagte ich beinahe entschuldigend. „Er ist kein gewalttätiger Typ, er ist nur gerade neben der Spur. Ich habe ihn mit einer anderen erwischt.“ Ich wusste nicht, ob es am Alkohol, an der Aufregung oder an meiner blutenden Wunde lag, aber es tat irgendwie gut, die Sache einer völlig Fremden zu erzählen. Einer Fremden, von der ich bis vor kurzem nur ihren Besen und ihre Unfreundlichkeit gekannt hatte.

Meine Nachbarin holte tief Luft, stand auf und stellte die Cognacflasche auf den Couchtisch.

„Bei den Wunden wird wohl ein Glas nicht reichen“, murrte sie und ich musste lächeln. Sie goss uns noch eine Runde ein und obwohl ich morgen wieder Vorlesungen hatte, hatte ich das Gefühl, dass dieser Abend Alkohol verdient hatte, und trank auch das zweite Glas leer. Der Cognac brannte weniger als beim ersten Mal.

„Ich dachte wirklich, dass ich mit ihm mein Leben verbringe“, begann es plötzlich aus mir herauszusprudeln, während ich gedankenverloren den Ring an meinem Finger drehte. „Ich wollte nach dem Studium mit ihm zusammenziehen, in eine hübsche Wohnung, wir hatten einen Plan. Warum …?“ Ich stockte.

„Warum was?“, fragte die Nachbarin, während sie ihre Beine ausstreckte. „Warum es nicht funktioniert hat?“

Ich nickte. Sie zuckte mit den Schultern. „Hatte es denn Boom-Tschakka-Boom gemacht?“

Ich runzelte die Stirn. „Boom-Tschakka-Boom?“, wiederholte ich und hoffte, dass dies jetzt kein Gespräch über Sex werden würde.

Die Nachbarin beugte sich nach vorne. „Na, als Sie ihn das erste Mal gesehen haben, als Sie sich das erste Mal berührt haben, als Sie mit ihm gesprochen haben und womöglich dachten, dass jeder Moment ohne ihn ein vergeudeter wäre. Bei Charles und mir war es so, es war, als würde ich in eine Stromleitung greifen. Wir wussten sofort, dass wir zusammengehören.“

Ich überlegte, wie es gewesen war, als ich Tim kennengelernt hatte. Wir waren uns in der Bibliothek über den Weg gelaufen, er hatte sich ein italienisches Buch ausgeborgt und ich einen Roman von Jane Austen. Danach führte eine Verabredung zur nächsten.

„Wenn Sie sich nicht erinnern können, dann hat es nicht Boom-Tschakka-Boom gemacht“, sagte meine Nachbarin und machte eine kurze Pause. „Ich hoffe also für uns beide, dass der laute Typ nicht noch mal aufkreuzt … sonst kommt mein Besen zum Einsatz.“ Sie grinste kampflustig und ich musste schmunzeln.

„Etwas brennt Ihnen noch auf den Lippen, und es ist nicht der Cognac“, sagte sie.

Ich nickte.

„Na, dann raus damit“, befahl sie.

„Stimmt es“, begann ich, „dass Sie tatsächlich schon jemanden mit einem Besen kastriert haben?“

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