Esther – neun

Esther – neun

„Hast du dir eigentlich schon ein Thema für das Soziologie-Projekt ausgesucht?“, fragte ich Flo, als wir beide im Party-Outfit das Haus verließen.

„Für das Projekt? Nein, spinnst du? Das hat doch noch ewig Zeit“, gab Flo zurück und zog mich über die Straße. Ich hatte mit meinen High Heels auf dem Kopfsteinpflaster zu kämpfen, aber Flo schien es gar nicht zu merken. Sie sprühte regelrecht vor Begeisterung. „Ich kann gar nicht verstehen, wie du jetzt an die Uni denken kannst. It’s Party-Time! Wir werden lachen, wir werden tanzen und wir werden richtig viel Spaß haben.“

„Was ist eigentlich mit Mike?“, fragte ich. „Kommt er heute gar nicht mit?“

„Ach der“, Flo wedelte in der Luft herum, als ob sie ein lästiges Insekt verjagen wollte. „Der ist irgendwie seltsam, selbst für eine Affäre.“ Sie lächelte hintergründig. „Aber wir werden heute dafür sorgen, dass nicht nur ich, sondern auch du ein paar neue Bekanntschaften schließt.“

Sie steuerte auf ein mehrstöckiges Gebäude zu, bei dem in den oberen Etagen die Bässe aus dem Fenster dröhnten.

Nicht gerade meine Art von Musik, aber vielleicht musste ich mich einfach nur daran gewöhnen. Genau wie an die Schuhe. Und das Kleid. Und das Make-up.

Flo stöckelte schwungvoll voran und ich folgte ihr durch das Treppenhaus bis zu einer Wohnungstür und von dort durch eine Menge an verschwitzten Leibern bis zu einem Mischpult, wo meine neue Freundin einen bärtigen Typen mit Küsschen rechts und links begrüßte. Dann beugte sie sich nach vorne und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die wummernde Musik drang bis in meine Fingerspitzen und ich strich mir nervös die Haare zurück.

Tim und ich waren nicht oft auf Partys gegangen, denn er war mehr der Typ für italienisches Essen und gemütliche Abende auf der Couch gewesen. Und ich hatte nach ein paar deprimierenden Erlebnissen in meiner Jugend, die entweder damit endeten, dass ich bei „Pflicht oder Wahrheit“ einen verschwitzten Jungen küssen oder eine demütigende Wahrheit über mich preisgeben musste, die Lust an Partys ebenfalls verloren.

Flo deutete auf den bärtigen Typen und stellte ihn als „Johnny“ vor. Johnny nickte mir kurz zu und widmete sich dann wieder seinem Job als DJ.

„Komm, wir holen uns was zu trinken“, sagte Flo und griff nach meiner Hand. Gemeinsam schoben wir uns durch die vielen Menschen bis zu einem Tisch, auf dem eine Riesenschüssel mit Bowle und alle möglichen Flaschen mit alkoholischen Getränken aufgestellt waren.

„Worauf hast du Lust?“, fragte mich Flo und ich blickte auf das Angebot vor mir auf dem Tisch.

„Äh … Bacardi Cola?“

„Ernsthaft?“ Flo zog eine Augenbraue hoch und lachte, dann schenkte sie sich selbst einen Tequila ein, stieß mit mir an und kippte ihn runter.

„Du musst locker werden, Esther. Lächle doch mal. Die Leute sollen doch nicht denken, dass du keinen Spaß hast. Was hältst du von dem Typen dort?“

Sie schenkte uns noch ein Glas nach und wies mit dem Kinn unauffällig nach links. Ich kippte den Tequila gleichzeitig mit ihr hinunter und entdeckte einen dunkelblonden Typen mit Ziegenbart, der in unsere Richtung schaute.

„Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist“, sagte ich. „Ich habe doch eben erst mit Tim Schluss gemacht …“

„Verstehe, du willst weiter trauern“, sagte Flo und schubste mich in seine Richtung. „Hey du“, rief sie dann über das Dröhnen der Musik hinweg dem blonden Typen zu. „Meine Freundin hat eine wirklich traurige Geschichte über ihren Exfreund zu erzählen.“ Sie grinste mich an und stürzte sich dann in das Getümmel, wo sie lachend die Hüften schwang. Oh Mann. Es war ein Fehler gewesen, nüchtern herzukommen.

„Hi“, sagte der Ziegenbartträger im nächsten Moment und beugte sich zu mir rüber. „Willst du tanzen?“ Sein Atem roch nach Alkohol und sein Körper nach Schweiß.

„Nein, danke“, erwiderte ich höflich und wich zur Seite aus. Die Musik steigerte sich zu einem Crescendo und brach dann unvermittelt ab, woraufhin die Tänzer alle johlten und in die Hände klatschten.

„Und jetzt Leute“, sagte der DJ, „jetzt seid ihr dran.“

„KARAOOOKEEE!!“, brüllte die Menge und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Nicht auch das noch.

„Wir haben heute zwei Ladys unter uns, die kürzlich erst eine schlimme Trennung durchgemacht haben. Sie wollen ein aktuelles Lied aus den Charts singen. Flo und Esther? Darf ich euch mal in die Mitte bitten?“

Ich hörte die Worte, aber ich wollte sie nicht wahrhaben.

Sicher meinte er eine andere Flo und eine andere Esther. Die Sekunden dehnten sich und ich spürte, wie sich die Leute neugierig umschauten.

„Hier sind wir!“, kreischte Flo wie aus dem Nichts, packte meine Hand und zog mich in die Mitte der Tanzfläche.

„Das wird total cool“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Ich hab ihm „Im Leben daneben“ gegeben, den Song magst du doch auch gerne. Hier“, sie drückte mir ein Mikro in die Hand und die ersten Takte setzten ein.

„Bist du verrückt?“, stammelte ich entsetzt und hörte, wie meine Worte von dem Mikrofon durch den ganzen Raum getragen wurden. Die anderen Partygäste lachten vergnügt und Flo kicherte mit. Dann hielt sie mir einen Zettel mit dem Text unter die Nase und hängte sich bei mir ein.

Mir wurde schlecht. Es war wie damals.

„Ich kann das nicht, das ist zu peinlich“, flüsterte ich erstickt.

„Klar kannst du, das wird super“, grinste Flo und begann zu singen. Ich schnappte nach Luft und machte mich los. Ich hörte Flo meinen Namen rufen, ich hörte, wie die Menge begann, das Lied zu grölen und ich hörte meinen eigenen, heftig pochenden Herzschlag.

Alles, was ich denken konnte, war, dass ich hier raus musste.

Ich raste durch das Treppenhaus, bis ich endlich auf der Straße stand. Dort zog ich die Schuhe aus und lief über das Kopfsteinpflaster nach Hause. Flo würde mich jetzt wahrscheinlich für völlig verrückt halten, aber damit musste ich leben. Ich konnte nicht singen, es ging einfach nicht, und ich war unendlich froh, als die Gasse mit meiner Wohnung in Sicht kam. Doch die Erleichterung wandelte sich in Entsetzen, als ich erkannte, wer da vor meinem Haustor stand.

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