Esther – vierzehn

Esther – vierzehn

Zufrieden ließ ich den Pinsel sinken. Die hellgelbe Farbe, die ich mir im Baumarkt besorgt hatte, überdeckte die hässlichen Wasserflecken an der Wand und verlieh meinem kleinen Reich einen sonnigen und freundlichen Einschlag. Auf dem Flohmarkt hatte ich ein paar bunte Teppiche erstanden, die nun das schäbige Laminat verbargen, und außerdem hatte ich heute Morgen alle Fenster geputzt. Der Rest von meiner Wohnung ging unter in Büchern, denn mir fehlte noch ganz klar ein zweites Bücherregal. Bis ich mir das leisten konnte, mussten sie eben auf den Kommoden, den Stühlen und teilweise auch auf dem Boden liegen. Aber hey, ich war auch ohne zweites Bücherregal schon verdammt stolz auf mich – immerhin fühlte ich mich nach meinen ersten Wochen in der neuen Stadt nun langsam schon richtig wohl hier.

Beschwingt ging ich ins Bad, um den Pinsel auszuwaschen, und seufzte glücklich, als ich zurück ins Wohnzimmer kam, das mit der neuen Wandfarbe gleich viel wohnlicher wirkte.

Newton strich mir um die Beine und ich streichelte ihm im Vorbeigehen das Köpfchen.

Mein Handy machte Pling und ich warf einen Blick darauf.

Es war eine WhatsApp von Tim.

Ich schnaubte leise. Tim gab einfach nicht auf und wahrscheinlich würde mir nichts anderes übrig bleiben, als meine Nummer zu ändern.

Seufzend ging ich zu meinem Schreibtisch, zog meine Liste hervor und schrieb ganz unten den Punkt: „Telefonnummer wechseln“ auf. Dann legte ich das Papier wieder zurück. Dabei fiel mein Blick auf Punkt 7, den ich mal aufgeschrieben hatte, als ich mich stark und unbesiegbar gefühlt hatte. Diesen Punkt jetzt nur anzusehen, verursachte mir schon Schweißausbrüche und ich hätte ihn am liebsten durchgestrichen, aber dann dachte ich wieder an die Mut-Esther, die ihre Flügel ausgebreitet hatte und allein in eine fremde Stadt gezogen war, um ihren Traum zu leben. Da würde ich ja wohl auch Punkt 7 auf meiner Liste schaffen, selbst wenn er total peinlich war. Entschlossen faltete ich das Papier zusammen und steckte es zurück in die Schublade.

Ich war gerade auf dem Weg in die Küche, als mein Handy klingelte. Rasch legte ich mein Buch zur Seite und hob ab.

„Hey Süße, was machst du gerade?“, ertönte Flos Stimme gutgelaunt durch das Telefon.

„Kamillentee“, sagte ich und lächelte, weil ich genau wusste, was gleich kam.

„Kamillentee?!“, schrie Flo. „Du weißt, wie man den besten Chai Latte der Welt kocht, und machst dir einen langweiligen Kamillentee?“

Ich lachte, denn genau die gleiche Unterhaltung hatten wir auch schon gehabt, als ich mir letztens eine Cola light genehmigt hatte. Flo war einfach der total Chai Latte-Freak. Möglicherweise mochte sie Chai Latte sogar noch lieber als den Leadsänger von NEBEN.

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich meine Arbeit nicht gern mit nach Hause nehme, Flo?“

„Blödsinn“, meinte Flo am anderen Ende der Leitung. „Das ganze Zeug, das du für die Uni büffelst, nimmst du dir ja auch mit nach Hause. Aber heute Abend verordne ich dir eine Zwangspause. Du brauchst unbedingt mal wieder einen Kerl, sonst vertrocknest du noch wie die ganzen Kakteen, die du auf deinem Küchenfenster sammelst.“

„Ich hab schon einen Kerl“, sagte ich ausweichend und öffnete für Newton das Fenster.

„Ich meine einen ohne Fell. Einen, mit dem du mehr als nur kuscheln kannst“, entgegnete Flo. „Das Leben besteht aus mehr als nur aus Lernen, Esther. Was ist mit Spaß, wo bleibt die Freude? Du bist jung, mein Gott, du könntest schon morgen vom Bus überfahren werden!“

Ich verdrehte die Augen wegen ihrer Theatralik.

„Ich muss das Projekt fertig bekommen. Du weißt doch, meine These über den Rassismus?“, sagte ich und goss kochendes Wasser in eine Teetasse.

„Jaja, dass Rassismus nur dann verschwindet, wenn auch die sozialen und blablabla Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen beseitigt werden – das ist total langweiliges Zeug, Esther. Echt jetzt. Aber wenn wir heute ausgehen, darfst du es irgendeinem Typen erzählen, na, wie klingt das?“

Ich lachte und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

„Keine Chance, Flo, wenn ich heute Nacht nicht lerne, krieg ich das mit dem Studium nicht auf die Reihe. Aber … sorry, warte kurz mal, da ruft gerade jemand an.“

5 thoughts on “Esther – vierzehn

  1. Einfach klasse euer Blogroman. Das versüßt mir jeden Dienstag und Freitag!
    Ich kann den neuen Band auch kaum erwarten. Die Serie ist wirklich klasse, auch wenn ich mit meinen 31 Jahren wohl nicht mehr ganz zu der Zielgruppe gehöre ?
    Weiter so!

  2. Also meine Freundin und ich sind auch Ü-30 und absolute Fans ? In 8Sinne geht es ja auch zwischenzeitlich etwas brutaler zu, ich denke schon, dass wir noch zur Zielgruppe gehören?
    Habe Band 7 auch wieder an einem Tag weggeatmet. Unglaublich, was für eine Welt ihr da einfach erschaffen habt! Bin echt schon gespannt, wie sich am Ende alles zusammenfügt.

    1. Hallo Ernest, natürlich gehört ihr noch zur Zielgruppe!! (wenn wir jemals eine definiert hätten ;))) Weggeatmet? Solche Wörter lieben wir!! Und wir könnten daraus natürlich auch gleich einen Zauber machen, oder gar eine Kriegsfähigkeit? Mal sehen :)) Wir wünschen euch ein schönes Wochenende & danke für das nette Feedback! Viele Grüße, Carmen & Ulli

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