Esther – 135

Esther – 135

Wir landeten im Morgengrauen auf einer nebelverhangenen Wiese neben einem tiefblauen See. Schroffe Felsen mit dunkelgrünen Wäldern erhoben sich rund um das Wasser zu einer rauen Kulisse atemberaubender Schönheit. Die Motorblätter des Helikopters pressten das Gras ringsum flach auf den Boden und ich griff nach Erics Hand, als wir geduckt auf die stabile Blockhütte zuliefen, die direkt am Ufer des Sees lag. Ein Steg führte von hier aus in das bewegte Wasser, dessen Oberfläche sich unter dem heftigen Wind des Hubschraubers stark kräuselte.

Eric gab dem Piloten ein Zeichen, der uns einmal kurz zunickte, bevor er den Helikopter wieder hochzog und in der Luft wendete. Ein paar Sekunden später war nur noch das entfernte Kreisen der Rotorblätter zu hören, das ebenfalls immer leiser wurde, bis es schließlich völlig verklang.

Die Stille danach war beinahe noch lauter als das Lärmen des Hubschraubers davor. Mit klopfendem Herzen blickte ich auf die einsame Landschaft. Die dicht bewachsenen Berge, der glasklare See und die grenzenlose Weite der taunassen Wiese changierte in sanften Blau- und Grüntönen, als hätte man über alles einen kühlen Filter gelegt. Ich fröstelte ein wenig und schmiegte mich an Eric, der die würzige Luft tief in seine Lungen zog. Dieser Ort war wirklich pure Einsamkeit.

Es war genau das, was er jetzt brauchte.

„Lass uns alles erkunden“, sagte Eric und zog den Schlüssel für die Hütte aus der Tasche. Gemeinsam stiegen wir über zwei knarrende Holzstufen zu einer ebenfalls hölzernen Veranda, auf der zwei Schaukelstühle mit Blick auf den See standen.

Eric schloss auf und betrat mit mir die Hütte, in der ein schwacher Geruch nach Kiefernnadeln hing. Die Einrichtung war einfach, aber sehr gemütlich, und ich fühlte mich in dem rustikalen Ambiente mit den vielen Kissen auf dem kuscheligen Sofa augenblicklich wohl.

„Es ist schön hier“, sagte ich, während ich mit den Fingerspitzen über die glatten Vollholzmöbel strich und Stück für Stück alles erkundete. Rechts vom Eingang führte eine gerade Treppe in das Obergeschoss hinauf, wo ich das Schlafzimmer und das Bad vermutete.

„Es ist unglaublich“, sagte Eric und öffnete ein Fenster. Von hier aus hatte man einen atemberaubenden Ausblick auf die majestätischen und dicht bewachsenen Berge. Ich stellte mich neben ihn und spürte, wie er mich an sich zog und dabei sanft über meinen Bauch strich. „Wir könnten an einem Ort wie diesem leben.“

Lächelnd ließ ich meinen Kopf an seine Schulter sinken. „Im Sommer Gemüse anbauen und im Winter auf dem See eisfischen?“

„Unser Kind würde in der Natur aufwachsen. Und es bräuchte nie zu erfahren, dass ich in einem anderen Leben mal berühmt war.“

„Das heißt, du willst ein Leben ohne Internet?“, hakte ich zweifelnd nach.

„Nur die Natur“, bekräftige Eric.

„Mit jeder Menge Bären.“

„Und Sex auf dem Bärenfell.“ Er grinste.

„Hier gibt es gar kein Bärenfell“, sagte ich mit einem Blick über die Schulter. Eric sah sich ebenfalls in der Hütte um. „Verdammt. Aber das mit dem Sex kriegen wir trotzdem hin.“

***

Der nächste Tag brach mit einem Sonnenaufgang auf, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Zartrosa Sonnenstrahlen tasteten sich sanft über die schroffen Gipfel der Bergkette und brachte das darunterliegende Wasser zum Leuchten. Ich hatte mir eine Decke aus der Hütte um die Schultern geschlungen und ging langsam über den Steg bis an sein Ende. Dort ließ ich meinen Blick über die unberührte Natur schweifen.

Es war so still und friedlich hier, dass ich alles andere für einen Moment tatsächlich vergaß. Ich dachte nicht mehr an die bevorstehende Hochzeit und den Hochzeitsplaner, dachte nicht an Flo und Chris oder mein Praktikum bei Sorthys & Clark, für das ich meiner Dozentin diese Woche zugesagt hatte. Ich dachte einen Moment lang nicht mal an das Baby und meine Zukunft. Ich stand einfach nur so da und genoss diesen Moment, fernab von allen Youtube-Videos und dem lärmenden High Society-Leben.

Eric hatte mich gestern überredet, mein Handy auszuschalten – und es hatte so gut getan, der Welt für zumindest einen Tag den Rücken zu kehren. Über mir zog ein Wanderfalke seine Kreise und ich genoss einfach nur die Stille, als ich plötzlich das Knallen einer Tür hinter mir hörte und mich umdrehte. Eric rannte über den Steg auf mich zu. Sein Gesichtsausdruck jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken.

„Was ist los?“, hörte ich mich selbst fragen.

Er blieb keuchend vor mir stehen und griff nach meinen Händen, bevor er antwortete. „Wir müssen zurück. Dein Vater, Esther … er hatte einen Herzinfarkt.“

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