Esther – 75

Esther – 75

Wir mussten den Highway noch etwas entlangfahren, bis wir an der nächsten Ausfahrt umdrehen konnten.

„Das war keine Absicht“, sagte Eric, während er konzentriert auf die Straße blickte.

„Das habe ich auch nicht geglaubt“, erwiderte ich.

Er starrte nach vorne. „Hast du es nicht gedacht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wenn du es nicht willst, dann würdest du umdrehen.“

Er schnaubte. „Ich will es nicht und drehe trotzdem nicht um.“

„Dann wird es einen Grund haben.“

Eric schaltete einen Gang höher. „Das hoffe ich“, murmelte er, „verdammt, Esther, das hoffe ich.“

 

„Das hier ist Ihr Zimmer“, erklärte uns die Frau mit den grauen Locken und zeigte auf den kleinen Raum, in dem ein Doppelbett stand und der mit frischen Blumen und Zierdecken ausgestattet war. Es war nicht ganz mein Stil, aber man spürte die Liebe, die hier in jedem Detail steckte.

„Entzückend“, sagte ich und lächelte.

„Ja, das ist eines meiner Lieblingszimmer“, erwiderte die Pensionsbesitzerin. „Ach, was sage ich – es sind alle meine Lieblingszimmer. Vor allem, wenn sie ausgebucht sind.“ Sie lachte und ich lächelte mit, nur Eric schien in Gedanken versunken zu sein. Er ließ seine Tasche neben einem Ohrensessel mit Blumenmuster fallen und sah sich weiter im Zimmer um.

„Da hinten finden Sie das Bad“, erklärte die Frau weiter. „Es ist klein, aber es wird für Sie beide reichen. Wie lange werden Sie denn bleiben?“

„Wir wissen es noch nicht“, antwortete ich diplomatisch, da wir es tatsächlich noch nicht wussten. Wie viel Zeit würde Eric mit seiner Mutter verbringen wollen? Würde er überhaupt mit ihr sprechen wollen? Oder nur mit seiner Schwester?

„Wir nehmen es auf alle Fälle“, sagte ich.

„Ich müsste nur wissen, wie lange ich es einbuchen muss. In den nächsten Tagen findet ein Volksfest in unserem Ort statt und da kommen öfters Gäste von außerhalb zu Besuch. Sie müssten sich also schon festlegen, wie lange Sie bleiben wollen.“ Die Besitzerin knetete ihre Hände.

„Wir nehmen es die ganze Woche“, sagte Eric, ohne die Frau auch nur anzusehen. Stattdessen schob er den hellrosa Vorhang zur Seite und blickte aus dem Fenster.

„Oh. Das ist schön“, sagte die grauhaarige Dame und ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus. „Von 8 bis 10 Uhr servieren wir unten im Speisesaal Frühstück. Es gibt selbstgemachte Marmelade und frische Brötchen.“ Sie fixierte Eric für einen Augenblick und ich fragte mich, ob sie ihn erkannte oder nur als äußerst unhöflich empfand. Oder besonders spendabel, weil er ohne mit der Wimper zu zucken die ganze Woche buchte.

Dann löste sie ihren Blick von ihm und drückte mir den Schlüssel mit dem Lederanhänger in die Hand. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt“, sagte sie und schloss die Tür hinter sich.

Langsam ging ich zu Eric ans Fenster und schloss meine Arme von hinten um ihn. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich wusste nicht genau, was er fühlte, aber irgendetwas passierte gerade mit ihm.

„Ich war noch nie hier“, sagte er und drückte meine Hand an seine Brust. „Ich war noch kein einziges beschissenes Mal hier.“

Ich schluckte und betrachtete den Ortskern der Kleinstadt, den man von hier aus sehen konnte. Die Einwohner waren gerade eifrig damit beschäftigt, Pavillons und Tische aufzubauen, Banner aufzuhängen und irgendwelche Speisen anzukarren. Die Sonne fiel auf dieses Städtchen, das mit seinen kleinen Läden und freundlichen Bewohnern total idyllisch wirkte, fast, als hätte man es aus einer anderen Zeit hierher verfrachtet. Es war kein Vergleich zu der hektischen Stadt, aus der wir kamen.

Familien lachten und Leute winkten einander fröhlich zu, während sie arbeiteten oder über die Straße gingen.

„Das ist so verdammt kitschig“, kommentierte Eric das Geschehen, das außerhalb stattfand.

„Das ist es“, sagte ich. „Aber auch irgendwie schön.“

Eric führte meine Hand zu seinen Lippen und küsste sie. Ich spürte seine Bartstoppeln über meine Haut kratzen und schmiegte mich noch näher an seinen Rücken.

„Du magst Kitsch“, bemerkte er.

„Manchmal“, erwiderte ich.

Und dann lachte er, aber es war kein schönes Lachen. Es war ein trauriges Lachen und ich wusste genau, woran er dachte.

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