Eric – sechsundvierzig

Eric – sechsundvierzig

Es war unglaublich, dass eine Frau wie sie denken konnte, sie sei nichts Besonderes. Sie hatte es zwar nicht laut gesagt, aber ich sah es an dem Schatten, der ihre wunderschönen Augen trübte. Fuck, ich hätte den Kerl am liebsten verprügelt, mit dem sie vor mir zusammen gewesen war, und der sie nicht verdient hatte. Keiner hatte sie verdient. Schon gar nicht so ein kaputter Typ wie ich.

„Was ist?“, fragte sie und es machte mir eine Scheißangst, dass sie diese Gabe hatte, in meinem Gesicht zu lesen wie in einem offenen Buch. Irgendwie wusste sie immer, wenn mich etwas beschäftigte, und die verfluchte Dunkelheit wieder näher kam, wie so eine beschissene Welle, die sich immer nur kurz zurückzog, um dann wieder mit voller Wucht gegen mein erbärmliches Leben zu brettern.

„Nichts“, log ich und küsste sie, ich küsste die Sorgenfalte auf ihrer Stirn einfach weg und versuchte auch nicht an Chris zu denken, der mir sagte, dass ich mich nicht zu hassen brauchte.

Chris wusste nicht, was ich schon alles getan hatte, welche Scheiße ich mir schon reingezogen und wie viele Frauen ich einfach nur aus Langeweile gevögelt hatte – nur weil ich es konnte. Weil sie mich vergötterten, als wäre ich irgend so ein beschissener Held, obwohl ich nichts anderes war als ein Typ, der sich auf die Bühne stellen und singen konnte.

„Rede mit mir“, sagte Esther sanft. Ich schloss die Augen und spürte ein Brennen in meiner Brust, weil ich es einerseits wollte und weil ich gleichzeitig keine Ahnung hatte, wo ich anfangen sollte.

„Ich bin nicht sonderlich gut im Reden.“

Sie strich mir sanft mit den Fingern über meine Stirn, zeichnete den Verlauf meiner Augenbrauen nach und erkundete jede Kontur meines Gesichts. „Dann lass uns einfach zusammen schweigen“, flüsterte sie und dieses Angenommenwerden, diese Akzeptanz in ihrer Stimme und in ihren Augen, war beinahe zu viel für mich.

Genau das war es wonach ich mein ganzes Leben so verzweifelt gesucht hatte und ich musste echt aufpassen, um hier und jetzt nicht was verdammt Dummes zu sagen. Das L-Wort spukte durch mein kaputtes Hirn und grillte meine Synapsen, dieses verdammt große Wort. Ich sollte jetzt meine beschissene Klappe halten und nicht anfangen, von der verfluchten Liebe zu labern, denn das Leben war nun mal kein beschissener Songtext.

Esther sah mich noch immer an, auf diese verdammt intensive Art, bei der ich das Gefühl hatte, als würde sie mich komplett durchschauen. Plötzlich war dieses Panikgefühl da, und ich wollte nur raus, raus aus dieser ganzen Situation, und ich räusperte mich, schlug die Decke weg und stand auf. Dann murmelte ich was davon, dass ich mal kurz ins Bad müsse, schlüpfte in meine Jeans und ergriff die Flucht.

 

Ich schnappte mir mein Handy und meine Autoschlüssel und dann verließ ich das Haus. Esthers Eltern schliefen schon und ich war froh, niemandem zu begegnen, als ich die Terrassentür leise hinter mir ins Schloss zog und hinaus in den Garten trat.

Der Mond hing am Himmel und knallte sein gelbes Licht auf mich runter. Es war, als würde er mich genauso durchleuchten, wie vorher Esther mit ihrem Blick und ich dachte an meine Mutter und meinen beschissenen Vater und die Zeit auf der Straße. Ich dachte an das Heim und an Chris, dachte an die junge Esther, die einfach so auf mich zugekommen war, obwohl wir uns nicht kannten, und die der einzige beschissene Grund war, dass ich den Glauben an die Menschen nicht völlig verloren hatte.

Ich hatte sie gefunden.

Nach all den Jahren hatte ich sie gefunden und jetzt stand ich hier und es fühlte sich an, als würde die verdammte Welle über mir zusammenschlagen. Ich bekam keine Luft und wusste nicht warum, was war mit mir los, was zur Hölle war nur mit mir los?

Ohne groß nachzudenken zog ich mein Handy aus der Tasche und rief meine Kontakte auf. Mein Daumen scrollte über die unzähligen Namen, von denen ich schon die Hälfte nicht mehr zuordnen konnte. Dann fand ich den Namen des einen Menschen, von dem ich nie gedacht hatte, dass ich ihn freiwillig anrufen würde, nie im Leben. Es war mitten in der Nacht, aber das war gerade egal, ich durfte das mit Esther nicht kaputt machen, dieses eine Mal musste ich etwas auf die Reihe kriegen.

„Hallo?“, meldete sich eine verschlafene Stimme.

„Hallo“, sagte ich. „Ich bin’s, Eric.“

3 thoughts on “Eric – sechsundvierzig

  1. Und nun endet es wieder so, dass ich es kaum erwarten kann bis wieder Freitag ist! Ich freue mich schon auf die Fortsetzung! Macht weiter so! Ihr schreibt einfach toll!

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