Eric – fünfunddreißig

Eric – fünfunddreißig

Von einer Sekunde auf die andere ging alles so beschissen schnell. Der eine Typ packte den Defibrillator weg, dann hoben sie sie auf eine Trage und schoben sie in den Krankenwagen. Ich sah die Anspannung auf ihren Gesichtern und es machte mir eine scheiß Angst. Da sie mich nicht mitfahren ließen und ich kein Auto hatte, um ihnen hinterherzufahren, steuerte ich auf den nächstbesten Wagen zu. Er gehörte einem Typen mit Halbglatze, der blass neben der offenen Fahrertür lehnte und überdurchschnittlich oft schluckte.

„Wie viel willst du für dein Auto?“, fragte ich.

Er starrte mich einfach nur an und ich hasste ihn für seine Begriffsstutzigkeit, in dem Moment hätte ich die am liebsten aus ihm rausgeprügelt, aber ich zwang mich, ruhig zu bleiben. Für sie musste ich ruhig bleiben, ich musste mich jetzt verdammt nochmal zusammenreißen, wenn ich die beschissene Dreckskarre haben wollte.

„Ich will mir dein Auto ausborgen“, wiederholte ich so beherrscht, wie ich konnte.

„Hä?“, machte der Typ.

„Hier“, ich griff in meine Jeans und drückte ihm alles Geld, was ich bei mir hatte, in die Hand. Es mussten ungefähr zweitausend sein. „Das ist für dich. Ich fahr zum Krankenhaus, dort kannst du deine Karre dann wiederhaben.“

Der Typ starrte mich noch immer an, als wäre ich eine gottverdammte Erscheinung und meine Hand ballte sich zur Faust, als der Krankenwagen mit lautem Sirenengeheul an uns vorbeiraste.

Scheiße. Ich. Hatte. Keine. Zeit. Mehr.

Ohne noch länger auf die Zustimmung des kahlen Typen zu warten, schob ich ihn zur Seite und schmiss mich auf den Fahrersitz. Der Schlüssel steckte, und ich ließ den Wagen an.

„Hey!“, rief er jetzt, aber ich ignorierte ihn. Mit einer heftigen Bewegung legte ich den Rückwärtsgang ein und stieg aufs Gas. Die Karre schoss nach hinten und ich schlug das Lenkrad hart ein, während ich gleichzeitig die Handbremse zog, bis der Wagen in die richtige Richtung zeigte. Dann raste ich den Sanitätern hinterher.

 

Sie brachten sie in ein anderes Krankenhaus als das, in dem Chris lag. Und obwohl ich auf dem Weg dorthin kaum eine beschissene Verkehrsregel beachtete, waren sie mit ihr schon drin, als ich ankam. Ich schlitterte in die Einfahrt, mähte dabei fast einen Abfalleimer um, und sprang aus dem Wagen.

Mein Herz fühlte sich wie ein eiskalter Klumpen an und mir war kotzübel.

Wenn sie jetzt starb, dann … fuck, nein, ich wollte nicht daran denken. Ich rannte in das Krankenhaus, mit seinen hellen Fluren und den tausend Schildern mit Pfeilen und Namen und Nummern. Von irgendwo vor mir hörte ich hektische Stimmen und alles in mir wurde ganz taub. Ich hörte die Worte Schädelfraktur und Herzstillstand – und obwohl ich mir einreden wollte, dass es nicht sie war, wusste ich, dass es sie war. Durch eine Schwingtür hindurch beobachtete ich die Ärzte, die verzweifelt um ihr Leben kämpften und fühlte mich so unsagbar nutzlos wie noch nie zuvor in meiner ganzen beschissenen Existenz.

 

Danach wurde sie operiert. Sie wollten mir nicht sagen, wie es ihr ging, sie wollten mir gar nichts sagen, da ich nicht zu ihren Angehörigen zählte, tut uns leid, Mister, und ich stand da vor diesem beschissenen Schalter und hätte am liebsten die ganze Bude auseinandergenommen. Stattdessen setzte ich mich auf einen Stuhl und wartete. Ich wartete die ganze gottverdammte Nacht und ich sagte dem Arschloch da oben, dass er mich lieber hätte abkratzen lassen sollen, wenn er jetzt vorhatte, sie mir wegzunehmen, und dann kam irgendwann gegen fünf Uhr Morgens eine schlanke Frau mit rotblonden Locken und verheulten Augen zu dem Schalter mit der fetten Krankenschwester und fragte nach ihr. Und die unsympathische Kuh, die vorhin ihre Tut-uns-leid-Mister-Scheiße abgezogen hatte, nannte ihr ein Stockwerk und eine Zimmernummer.

 

Ich zog mir meine Kapuze tief ins Gesicht, als ich der Frau durch die Gänge folgte. Sie wirkte total fahrig und ihre Hände zitterten, als sie den Aufzugsknopf betätigte. Meine Hände zitterten auch, scheiße, ich zitterte als ganzer, und versuchte, nicht wie ein Junkie vor dem nächsten Schuss zu wirken. Die rotblonde Frau steuerte im oberen Stockwerk direkt auf eine Krankenschwester zu und ich hielt einen großzügigen Sicherheitsabstand, bevor sie auf mich aufmerksam wurde. Und dann wartete ich wieder.

Ich wartete so lange, bis die Krankenschwester mit der verheulten Frau in Zimmer Nr. 28 verschwunden war und es brachte mich fast um, nicht bei ihr sein zu können.

Erst als die Krankenschwester sich endlich wieder verdünnisierte, schlich ich näher und hörte die Rotblonde aus dem Zimmer flennen.

„Hast du gehört, Esther? Du darfst nicht sterben“, flüsterte sie und ich hielt es kaum aus, dass sie mit ihr sprach, als wäre sie schon halb tot.

„Das wird sie nicht“, sagte ich hart und trat ins Zimmer. Die rotblonde Tussi riss die Augen auf und stolperte erschrocken einen Schritt zurück. Sie stammelte irgendwas, aber ich hörte es kaum. Ich sah nur Esther an, sah den dicken Verband um ihren Kopf und die schrecklichen Blutergüsse in ihrem Gesicht.

Meine Kiefermuskeln spannten sich an und ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.

„Wie geht es ihr?“, fragte ich schließlich. Nur eine kleine, beschissene Frage, aber sie kostete mich meine ganze verdammte Kraft.

„Sie liegt im Koma“, erwiderte die Frau nach einer kurzen Pause. Sie starrte mich noch immer an. „Die Ärzte wissen nicht, ob sie wieder aufwacht.“

4 thoughts on “Eric – fünfunddreißig

  1. AAAARRRGGGHHHHH,
    ihr macht es einem ja echt nicht einfach. Jetzt muss ich wieder eine Woche warten. Ihr reißt einem in ein tiefes Loch, wie geht es bloß weiter….???
    Aber eure Überschrift lässt mich hoffen. Ihr erzählt ja, wie es sein könnte…..
    Gott sei Dank lese ich parallel grad den neuesten Band von 8 Sinne und bin etwas getröstet. ; – )
    Kann aber Dienstag und Freitag schon gar nicht abwarten.
    DANKE!

  2. Ihr seid ja so unfassbar gemein!!
    Und dann auch noch bis Dienstag warten :/
    Aber es wäre ein tolles Geburtstagsgeschenk, muss ich schon sagen, wenn sie aufwachen würde 🙂
    Meine Hoffnung stirbt zuletzt….

  3. Hallo Sabine und Anna-Lena,
    was sollen wir bloß sagen? Wir wollen natürlich nicht zu viel verraten … – aber Hoffnung ist prinzipiell etwas Gutes :))
    Alles Liebe und bald geht es schon wieder weiter!!
    Carmen & Ulli

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