Eric – fünfundvierzig

Eric – fünfundvierzig

Es war zu dunkel, um es genau zu sehen, aber ich bildete mir ein, dass sie rot wurde, als ihre Mutter vorschlug, dass wir beide in ihrem Zimmer übernachten sollten.

„Also für mich ist es okay“, murmelte ich mit einem leichten Grinsen.

„Klar“, sagte Esther nach einer kurzen Pause und der herausfordernde Blick, den sie mir zuwarf, fuhr mir direkt in den Magen.

Fuck, sie hatte wahrscheinlich keine Ahnung, wie sexy sie sein konnte.

„Dann wünsche ich euch eine gute Nacht“, sagte ihr Vater und warf mir einen langen Blick zu. Er sollte wohl bedeuten, dass er mich zwar mochte, aber dass ich trotzdem die Finger von seiner Tochter lassen sollte. Ich nickte ihm zu, aber das konnte ich ihm nicht versprechen.

 

Langsam gingen wir die Treppe rauf. Esther wirkte müde und griff bereitwillig nach meiner Hand, als ich sie ihr hinstreckte. In meinem Kopf drehte sich alles und ich konnte die Eindrücke des Tages noch immer nicht richtig fassen. Verdammt, ich hatte nicht nur ein Mädchen kennengelernt, ich war auch drauf und dran, das Wochenende mit ihr und ihren Eltern zu verbringen. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so lange unter Menschen gewesen war, ohne einfach nur weg zu wollen, aber bei ihr war irgendwie alles anders. Bei ihr war sogar ich anders.

„Und das ist mein Zimmer“, sagte sie und führte mich in einen kleinen Raum, in dem ein schwaches Licht brannte. Die Möbel waren alt, aber schön, und man sah die Liebe, mit der das Zimmer eingerichtet worden war. Neben dem Bett hatte Esthers Mutter eine Matratze für mich vorbereitet und mir stieg der angenehme Geruch von frisch bezogener Bettwäsche in die Nase. Es roch so, wie ich mir ein Zuhause vorstellte, und ich blieb einen Moment stehen, um das alles zu verdauen.

„Alles okay?“, fragte Esther und setzte sich auf ihr Bett. „Ist das für dich in Ordnung, wenn du auf dem Boden schläfst?“

Ich schüttelte den Anflug von Rührseligkeit ab und sah ihr direkt in die Augen. „Ist es denn für dich okay?“

Sie errötete wieder auf diese bezaubernde Weise, dass ich sie am liebsten einfach nur geküsst und nie wieder damit aufgehört hätte.

„Ich kann mir auch vorstellen, dass mein Bett groß genug ist für uns beide“, flüsterte sie und meine Pumpe machte einen auf Marathonlauf. Scheiße, das war nicht mehr normal, was ein verfluchter Satz von ihr bei mir bewirkte.

„Wir können es ja mal testen“, sagte ich und zog mir die Lederjacke aus, um sie über den Stuhl zu werfen. Dabei bemerkte ich ein paar Zeichnungen auf ihrem Schreibtisch und trat näher.

Ich starrte auf die Bilder und meine Kehle schnürte sich zusammen. Das konnte nicht sein. Das konnte echt nicht sein.

„Eric?“ Sie stand vom Bett auf und kam zu mir rüber. „Was hast du?“

Ich wollte antworten, aber verflucht, ich brachte kein Wort raus. Ich starrte nur auf die Kohlezeichnungen und dann ließ ich meinen Blick durch ihr Zimmer schweifen. Noch mehr Zeichnungen hingen da und sie alle zeigten das Bild eines schwarzen Rabens. Ich hatte das Gefühl, mich hinsetzen zu müssen. Ich hatte das Gefühl, was sagen zu müssen, aber ich konnte nur wie ein Idiot auf die Zeichnungen starren, und dann auf sie, und mein ganzer scheiß Körper überzog sich mit einer Gänsehaut.

„Das warst du“, flüsterte ich.

„Was war ich?“, fragte sie irritiert zurück. Sie war mir so nah, dass ich den Geruch ihres Shampoos riechen konnte und ich wollte sie an mich ziehen, aber gleichzeitig wollte ich mit ihr reden, ich wollte wissen, ob es wahr war.

„Ich war von zu Hause abgehauen“, sagte ich stockend. „Es war meine zweite oder dritte Woche auf der Straße und ich hatte so einen verdammten Hunger, dass ich sogar Hundefutter gefressen hätte.“

Sie starrte mich an und dann sah ich, wie es bei ihr Klick machte. Ihre Augen begannen zu glänzen und eine einzelne Träne löste sich von ihren Wimpern.

„Du hast mir dein Pausenbrot gegeben.“ Ich wischte ihr sanft mit dem Daumen die Träne von der Wange. „Ich hatte nichts, was ich dir im Gegenzug anbieten konnte …“

„Das ist nicht wahr“, flüsterte sie. „Du hast mir deine Zeichnung geschenkt.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig. „Ich habe immer versucht, den Raben nachzumalen, aber das schaffte ich nicht. Das Original hängt in meiner Wohnung.“

Ich starrte sie an und wusste nicht, was ich sagen sollte.

9 thoughts on “Eric – fünfundvierzig

  1. waaahnsinn, da bekomme ich auch glänzende augen.

    ihr schreibt diesen blogroman so aufregend und gefühlsintensiv, dass ich jedesmal in der ersten Zeile schon darin versinke.

    ich warte jetzt schon sehnsüchtig auf dienstag 😉 😀

  2. Immer wieder neue Überraschungen! Wundervoll! Ich freu mich besonders auf Dienstage und Freitage – am liebsten wäre mir, wenn der Blogroman nie endet …

  3. Ich kann mich den anderen nur anschließen. Jedes mal denke ich :was wollen sie denn jetzt noch bringen, was nicht vorhersehbar ist?, und dann kommt sowas….einfach nur schön ?

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