Esther – achtunddreißig

Esther – achtunddreißig

„Tim!“, entfuhr es mir überrascht. „Was machst du denn hier?“

„Ich habe gehört, dass du aufgewacht bist“, sagte Tim und seine grünen Augen huschten zu Flo, wo sie für einen Moment hängen blieben. Ich war mir nicht sicher, ob es daran lag, weil er Flo gut fand, oder ob er wollte, dass sie ging, Fakt war: Ich wollte, dass er ging.

„Tim, das zwischen uns ist vorbei“, sagte ich und bemerkte in derselben Sekunde den riesigen Blumenstrauß, den er hinter seinem Rücken hervorzauberte.

„Ich weiß, Baby, das hast du mir schon am Telefon gesagt“, gab er ungerührt zurück und schnappte sich die Vase mit Erics vertrockneten Rosen.

„Nicht!“, rief ich, da hatte er die kaputten Rosen schon in den Papierkorb gekippt und steckte stattdessen seinen bunten Blumenstrauß hinein. Ich hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht.

„Flo, entschuldigst du uns für einen Moment?“, fragte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.

Sie sah mich besorgt an und ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich mit der Situation allein klar kam. Dann stand sie auf, musterte Tim noch für einen Moment kritisch und ging aus dem Raum. Die Tür ließ sie offen stehen.

Tim beobachtete ihren Abgang aus dem Augenwinkel, bevor er Wasser in die Vase füllte und die Blumen ans Fenster stellte. Dann kam er zu mir rüber, setzte sich auf Flos Stuhl und rückte näher an mein Bett.

„Esther“, murmelte er, während er mich aus seinen grünen Augen einfach nur ansah. Ich konnte seinen Tonfall nicht ganz deuten, aber schon allein mein Name aus seinem Mund reichte, um mich zu nerven.

„Tim“, gab ich kühl zurück. „Wieso bist du hier?“

Er fuhr sich durch seine blonden Locken. „Das hab ich dir schon gesagt. Ich war bei uns im Supermarkt einkaufen, und da hab ich gehört, dass du aus dem Koma aufgewacht bist.“

„Das hörst du einfach so im Supermarkt?“

Ein Lächeln huschte über sein attraktives Gesicht. „Ich würde sagen, das hat der ganze Supermarkt gehört. Die schwerhörige Nachbarin von deiner Mutter hat es nämlich der Fleischverkäuferin erzählt.“

Ich schüttelte den Kopf. „Mrs. Malloy war immer schon eine furchtbare Tratschtante.“

Er grinste. „Das stimmt.“ Im nächsten Moment wurde er ernst. „Und ich bin froh darüber. Sonst hätte ich nicht mal erfahren, dass du einen Unfall hattest.“

Ich atmete tief durch. „Es geht dich auch nichts mehr an, Tim.“

„Sag so etwas nicht.“ Er schaffte es tatsächlich, verletzt dreinzusehen.

„Wie war es in Paris?“, fragte ich, um das Thema zu wechseln. „Hast du dort vielleicht jemanden kennengelernt?“

Er griff nach meiner Hand. „Ich will niemand anderen kennenlernen, Esther.“

Ich schüttelte den Kopf. „Tu das nicht, Tim.“

Er rückte noch ein Stückchen näher.

„Doch, ich tue es und ich tu es genau jetzt.“ Seine grünen Augen bohrten sich in meine. „Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen, Baby.“

Eine Bewegung aus dem Augenwinkel ließ mich den Kopf zur Tür drehen. Ich erwartete, Flo dort zu sehen, doch stattdessen sah ich … ihn.

Mein Herz setzte für einen Schlag aus und ich starrte in sein Gesicht. Seine blauen Augen wanderten von Tim zu mir und ich sah richtiggehend, wie sich etwas in ihm verschloss. Sein Gesicht wurde kalt, es war dasselbe Gesicht, das mir von den NEBEN-Plakaten entgegenblickte, und dann wandte er sich wortlos ab und ging. Ich sah seine dunkle Gestalt noch für einen Moment auf dem Flur, bevor er aus meinem Blickfeld verschwand, und hatte das Gefühl, als hätte mir jemand die Luft zum atmen genommen. Das durfte nicht wahr sein. Ich hatte mir so viele Stunden ausgemalt, wie es sein würde, ihn irgendwann wiederzusehen … nun konnte er nicht einfach so gehen.

Hektisch befreite ich meine Hand aus Tims Griff und schlug die Bettdecke zurück.

„Wo willst du denn hin?“, fragte Tim verwirrt, doch ich ignorierte ihn. Ich schwang die Beine über die Bettkante und ignorierte auch den leichten Schwindel in meinem Kopf, ignorierte die Schwäche in meinen Gliedern, als meine nackten Füße auf dem glatten Krankenhausboden landeten. Als ich aufstand, begann sich der Raum so stark zu drehen, dass ich mich kurz am Bett festhalten musste. Es dauerte nur einen Moment, dann ging es mir wieder besser und ich lief aus dem Zimmer in den Flur hinaus.

„Esther? Was zum Teufel ist in dich gefahren?“, rief Tim hinter mir, doch ich schenkte ihm keine Beachtung. Meine Augen huschten hektisch über den Flur, und dann sah ich ihn endlich. Er war schon fast am Fahrstuhl angelangt und ich begann zu laufen. Meine Beine fühlten sich wie Pudding an, aber wenigstens trugen sie mich und ich hatte ein Gefühl in der Brust, als würde jeden Moment mein Herz zerspringen.

Eric hatte den Fahrstuhl nun erreicht und schlug mit einer aggressiven Bewegung auf den Rufknopf. Sein Gesicht war eine einzige kalte Maske und plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob es eine kluge Idee gewesen war, in meinem Krankenhaushemd aus dem Bett zu springen und ihm wie in einem kitschigen Film hinterherzulaufen und da öffneten sich die Lifttüren bereits mit einem leisen Pling.

11 thoughts on “Esther – achtunddreißig

  1. Mädels ihr schafft mich! Ich schließe mich den anderen an. Nun ist endlich Dienstag und jetzt das? Wie jetzt die Fahrstuhltür geht auf und sie merkt , sie steht im Nachthemd da?!? Ihr wisst aber schon, dass erst in 3 Tagen Freitag ist oder??? 3 Tage!!! Wie soll ich denn bis dahin nicht an Neugierde sterben? :-O

  2. Aaaaa ist das spannend.Ihr seid literarische Folterknechte ? Und mal ein Kommentar in ganz persönlicher Sache… Ich kann Tim nicht ausstehen.Ironischer Weisr habe ich auch in meinem Leben so 2-3 Tims kennengelernt auf die ich hätte verzichten können ?

  3. Ihr Lieben,
    wir sind total happy, wenn ihr so mitfiebert – auch wenn ihr uns an die Wand donnern könntet ;))
    Bis Freitag ist es nicht mehr lange, und die Szene am Freitag ist bislang auch unsere Lieblingsszene … wir sind schon gespannt, was ihr dazu sagt!
    Viele Grüße von der Buchmesse,
    Carmen & Ulli

  4. Liebe Celina,
    der Blogroman ist nicht fertig, wie kommst du darauf? Wir haben nur schon vorgearbeitet, weil wir die Woche auf der Buchmesse sind und euch nicht enttäuschen wollten, indem wir den Freitag ausfallen lassen.
    Viele Grüße aus Frankfurt,
    Carmen & Ulli

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