Esther – dreißig

Esther – dreißig

„Bei mir gibt es nichts zu erzählen“, sagte ich und öffnete den Kofferraum meines blauen Fiats, während mein Handy zwischen Schulter und Hals klemmte. Dann hievte ich meine Reisetasche hinein, schloss die Heckklappe und setzte mich nach vorne. Ich wusste auch nicht genau, warum ich Flo nichts von der Begegnung mit dem Typen aus dem Coffeeshop erzählte, aber irgendwie wollte ich es noch für mich behalten. Es fühlte sich so zart, fast unschuldig an, auch wenn ich es noch nicht einmal benennen konnte – und ich war zu egoistisch, um es jetzt zu teilen. Außerdem wollte ich bei dem Gefühl bleiben, das ich hatte, dieses kleine Glücksgefühl, das immer wieder auftauchte, wenn ich an ihn dachte. Ich wollte es nicht zerreden. Und auch nicht darüber nachdenken, dass er bislang nicht angerufen hatte. Aber das konnte ich nicht verhindern, denn in Wahrheit dachte ich an nichts anderes.

„Aha. Du hast kurz gezögert. Bist du dir sicher, dass es da nicht doch jemanden gibt?“, hakte Flo nach.

„Flo, ich muss jetzt langsam losfahren, ich habe eine lange Autofahrt vor mir und ich bin schon spät dran“, sagte ich, schnallte mich an und startete den Motor. Ich wollte Flo auch nicht anlügen.

„Shit.“ Oh nein. Das durfte nicht wahr sein!

„Was ist los?“, fragte Flo.

Ich drehte den Schlüssel noch einmal herum, es folgte ein „Rataratarata“ und dann nichts mehr. „Das Auto, mein Fiat … er startet nicht“, erklärte ich.

„Der hat auch immer was“, entgegnete Flo.

„Flo, das hilft mir gerade nicht“, stieß ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und versuchte es nochmal. Und nochmal. Aber außer einem sich wiederholenden „Rataratarata“, das gleich darauf erstarb, passierte nichts. Der Motor sprang einfach nicht an.

„Nein, nein, nein“, sagte ich und klopfte verzweifelt aufs Lenkrad.

„Du kennst doch jetzt schon eine Werkstatt“, versuchte Flo mich aufzumuntern.

Ich schielte auf mein Handy. Es war schon nach zwei.

„Dafür habe ich gar keine Zeit und so, wie sich das anhört, ist es keine Kleinigkeit“, entgegnete ich und ließ mich im Sitz zurückfallen. „Ich werde wohl die Bahn nehmen müssen.“

„Das hört sich doch nach einem Plan an“, meinte Flo, „und außerdem kannst du in der Bahn auch noch lesen. Oder LERNEN, das machst du doch so gerne … na … jetzt bist du doch schon beinahe froh, dass du den Zug nehmen musst, oder?“

Ich musste tatsächlich lächeln. „Gut, so hätte ich es nicht ausgedrückt“, sagte ich und atmete einmal tief ein. „Aber es ist natürlich kein absolutes Desaster.“

„Ja, stell dir vor du hättest einen Unfall auf dem Highway gebaut – das wäre ein Desaster.“

„Es ist nur ein Auto“, sprach ich mehr mit mir selbst als zu Flo, „ich werde mir jetzt einfach ein Zugticket holen und zu meinen Eltern aufbrechen. Und danach kümmere ich mich um den Fiat.“ An die Kosten für die Reparatur wollte ich jetzt einfach nicht denken.

„Das ist die richtige Einstellung!“ Flo machte eine kurze Pause und ich konnte beinahe hören, wie sie sich über den nächsten Satz freute. „Und das feiern wir, wenn du wieder zurück bist! Mit ganz vieeeeel Sekt!“

 

Als ich wenig später mit dem soeben gekauften Ticket am Bahnsteig auf einer schäbigen Bank saß, wehte mir der kühle Wind ins Gesicht. Ich las gerade in dem Skript über „Die mögliche Gleichstellung von sozial bedingten Unterschieden“ und versuchte, mich auf meine Arbeit vorzubereiten. Doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab und ich musste den Absatz vor mir drei Mal lesen, bevor ich endlich umblättern konnte.

Es fiel mir verdammt schwer, mich zu konzentrieren. Ich dachte an die Feier meines Vaters und ob ich es rechtzeitig dorthin schaffen würde, ich dachte an meine Mutter und ihren berühmten Schokoladenkuchen und natürlich dachte ich auch an ihn, den Typen aus dem Coffeeshop und daran, dass er sich noch nicht gemeldet hatte. Wahrscheinlich war ich nicht interessant genug für ihn, wahrscheinlich zog er die Masche jeden Tag ab und ich war nur eine unter vielen, die sich in seinen blauen Augen verlor.

Nervös blickte ich auf die Uhr mit dem riesigen Ziffernblatt, die über meinem Kopf hing. Die Bahn musste eigentlich jetzt bald eintrudeln. Viel Zeit blieb mir nicht mehr und ich musste mich ja noch umziehen, schließlich konnte ich zu der Feier nicht mit der grauen Jacke und der abgewetzten Jeans aufkreuzen. Auch die Haare, die ich nur zu einem schlampigen Knoten zusammengebunden hatte, müsste ich eigentlich noch waschen …

Ich stand auf und begann, ungeduldig am Bahnsteig auf und ab zu gehen, als eine dreistufige Tonfolge das Ankommen des Zuges am Gleis ankündigte. Wenigstens das funktionierte jetzt.

Die Türen öffneten sich, ich verstaute mein Skript in meiner Umhängetasche, betrat den Zug und steuerte auf das erstbeste freie Abteil zu. Dort hievte ich meine Reisetasche auf das Gepäckablagefach und setzte mich an den Platz ans Fenster. Müde ließ ich mich in den Sitz fallen und versuchte meine Gedanken zu beruhigen, die immer wieder zu diesem Typen zurückkehrten. Um mich abzulenken, sah ich durch das Fenster nach draußen und beobachtete die Leute, die mit eiligen Schritten zu dem Zug liefen, um ihn noch zu erreichen.

Und dann setzte meine Atmung für einen Moment aus.

Da war er.

Der Typ aus dem Coffeeshop hetzte in einem abgetragenen Kapuzenpulli über den Bahnsteig und als sich unsere Augen trafen, begann mein ganzer Körper zu kribbeln. Mein Herz machte einen Satz und ich fühlte mich wie in einem dieser kitschigen Hollywood-Filme, wo der Mann in letzter Sekunde den Bahnsteig erreichte und die Frau auf ihn zulief und ihm um den Hals fiel. Ein Teil von mir wollte dasselbe tun, wollte aufstehen und zu ihm rennen, aber es kam mir total verrückt vor. Ein Pfiff von der Lok ertönte und der Typ beschleunigte sein Tempo. Er hatte seine Augen auf mich geheftet und rannte direkt auf mich zu. Ich fühlte mich unglaublich nervös, nervöser als bei meiner ersten Prüfung, und mein Herz klopfte wie wild. Er hatte den Waggon jetzt schon fast erreicht und ich sah, wie der die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, als er plötzlich stolperte. Erschrocken hielt ich den Atem an. Im nächsten Moment setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr mit mir fort, weg von ihm.

8 thoughts on “Esther – dreißig

  1. na wirklich toll ;-). Da mussten nun alle so lange auf den nächsten Teil warten und dann endet er so dramatisch. Das habt ihr euch wirklich gut ausgedacht….. 🙂

    Ihr seid hoffentlich gut erholt aus euren Urlauben wieder zurück.
    LG
    Carmencitha

        1. Hallo Johanna,
          das ist ganz unterschiedlich, aber wir veröffentlichen immer am Di und Fr, normalerweise auch früher – nur irgendwie ist unser Kopf noch im Urlaub. Viel Spaß mit dem neuen Part! LG Carmen & Ulli

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