Esther – einundzwanzig

Esther – einundzwanzig

„Geht’s wieder?“, fragte Amy und fuhr mir über den Arm. Wir saßen in einem kleinen Café um die Ecke und ich war froh, dass sie mich nicht in die Krankenhaus-Cafeteria geschleppt hatte. Es tat gut, aus dem Krankenhaus draußen zu sein.

Ich nippte an meiner Tasse Kamillentee und nickte. Amy hatte eine Tafel Schokolade aus ihrem Ärztekittel gezaubert und nachdem ich ein kleines Stückchen davon gegessen hatte, ging es mir tatsächlich besser.

„Tut mir leid, dass du das miterleben musstest“, sagte sie und strich mir ein zweites Mal über den Arm. „Ich hab vorhin mit dem behandelnden Arzt telefoniert. Er hatte anscheinend einen Hirnschlag.“

„Ich kann nicht glauben, dass er gestorben ist“, flüsterte ich. Vor meinem inneren Auge sah ich noch immer sein junges Gesicht und die Angst in seinen Augen. „Er wollte doch nur seinen Freund besuchen …“

Amy nickte und griff nach meiner Hand. „Mich hat das früher auch umgehauen, Süße. Wenn junge Menschen oder gar Kinder unerwartet sterben, ist es besonders schwer. Aber manche Dinge passieren einfach. Ich habe eine Weile gebraucht, um es zu akzeptieren, aber der Tod gehört nun mal zum Leben dazu.“

„Lebst du deshalb anders?“, fragte ich und blickte an ihr vorbei zu den anderen Menschen, die hier zusammensaßen und lachten und Kaffee tranken, oder die einfach nur stumm in ihre Handys und Tablets starrten. Jede Sekunde erschien mir gegenwärtig wie ein Geschenk und ich begann mein bisheriges Leben zu hinterfragen. Hatte ich es komplett ausgeschöpft? Oder gab es da noch Dinge, die ich lieber anders gemacht hätte? Angenommen, ich würde morgen vom Bus überfahren werden – wäre ich mit meinen getroffenen Entscheidungen zufrieden?

Amy seufzte und drehte sich ihre langen blonden Haare zu einem Knoten zusammen. „Ob ich jetzt anders lebe? Das ist eine verdammt gute Frage, Esther, aber wenn ich ehrlich bin, fürchte ich, die Antwort ist nein.“ Sie machte eine kurze Pause. „Die Wahrheit ist, man gewöhnt sich an den Tod. Wenn man in einem großen Krankenhaus arbeitet, wird man beinahe täglich damit konfrontiert. Und obwohl er mir so oft begegnet – oder vielleicht gerade, weil er mir so oft begegnet – ist da dieses Gefühl, dass das Sterben ja doch immer nur die anderen betrifft.“

Ich drehte an dem Ring, den ich von meiner Großmutter bekommen hatte und nickte stumm.

„Und obwohl mir mein Verstand sagt, dass ich genauso gut diejenige sein kann, der morgen ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, fühlt es sich nicht so an“, fuhr sie fort und rückte sich ihre schwarze Brille zurecht.

Ich schwieg. „Glaubst du an ein Leben nach dem Tod, Amy?“, fragte ich dann irgendwann.

Sie stützte das Kinn in die Hände und seufzte tief.

„Ich weiß es nicht, Süße. Ich schätze schon, zumindest ein bisschen.“

„Ich hoffe einfach, dass es ihm gut geht, da wo er jetzt ist“, sagte ich gedankenversunken und trank meinen Tee aus.

Sie griff nach meiner Hand. „Das hoffe ich auch. Aber da wir nun mal nicht wissen, ob uns der Himmel, eine Wiedergeburt als Waldameise, eine magische Welt oder die ewige Dunkelheit nach unserem Tod erwarten, sollten wir uns umso mehr darum bemühen, jeden Augenblick zu genießen. Das Leben kann so wahnsinnig schnell vorbei sein.“

 

Ich dachte noch lange über das Gespräch mit Amy nach, als ich an diesem Abend nach Hause ging. Die Stadt erschien mir voller kleiner und großer Wunder: der Geruch nach Regen in der Luft, das Geräusch eines weinenden Babys, das aus einem geöffneten Schlafzimmerfenster drang und der kühle Wind, der mir beruhigend über die Stirn strich.

Als ich die Tür zu meiner kleinen Wohnung aufsperrte und mir Newton verschlafen vom Sofa aus zublinzelte, setzte ich mich neben ihn und zog meine gefaltete Liste aus der Jeans.

Wenn du glücklich sein willst, dann sei es“, stand darauf und ich las mir den Satz Wort für Wort durch und traf eine Entscheidung.

Egal, wie lange ich noch hier auf dieser Erde war, ich würde glücklich sein. Und ich würde damit anfangen, indem ich mit Flo zu ihrem heißersehnten Konzert von NEBEN ging und einfach mal wieder Spaß hatte.

5 thoughts on “Esther – einundzwanzig

  1. Für mich ist euer Blogroman immer das Highlight der Woche. Wie ihr es schafft, neben euren eigentlichen „Hauptroman“ noch für den Blogroman zu schreiben, ist für mich echt grandios. Die Idee ist es sowieso. Klar wird von mir Band 7 heiß erwartet, aber die Idee zwischendurch das Leben von Lee und Ben kennenzulernen, fasziniert mich total. Immer ideenreich, immer spannend, wenn auch ganz anders als in „Die Macht der 8“. Vielen Dank, bitte weiter so. Ach ja und die Cover-Vorschau von Band 7 ist echt Hammer. Gefällt mir und lässt mal wieder viel Raum für Spekulationen 😉

    1. Liebe Silvia, der Blogroman liegt uns auch sehr am Herzen! Und es wird noch richtig spannend/berührend, das versprechen wir :)) Wir hoffen, dir gefällt auch Band 7 unserer Reihe und der Inhalt hält für dich, was das Cover verspricht! Viele Grüße, Carmen & Ulli

    2. Du hast Recht! Ich lese zwar etwas „verspätet“, da ich erstvor kurzem diesen Blogroman entdeckt habe dennoch fesselt er mich unglaublich! (Hat auch Vorteile zum Beispiel muss ich nicht immer so lange auf das nächste Kapitel warten?

    3. Du hast Recht! Ich lese zwar etwas „verspätet“, da ich erstvor kurzem diesen Blogroman entdeckt habe dennoch fesselt er mich unglaublich! (Hat auch Vorteile zum Beispiel muss ich nicht immer so lange auf das nächste Kapitel warten?.

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