Esther – sieben

Esther – sieben

Etwas Nasses stupste gegen meine Nase und ich versuchte, es noch im Halbschlaf wegzuschieben. Dabei landeten meine Finger in weichem Fell und ich riss die Augen auf. Der schwarze Kater begann augenblicklich zu schnurren und rieb sein Köpfchen an meiner Stirn.

Ach ja. Ich hatte ja nun ein Haustier.

„Guten Morgen, Newton“, flüsterte ich dem schwarzen Pelzknäuel zu, das sich enthusiastisch an mich schmiegte, während ich ihm die Ohren kraulte. „Hast du Hunger?“

Er schnurrte noch lauter und ich warf gähnend die Decke zurück, bevor ich, gefolgt von meinem schwarzen Schatten, in die Küche tappte. Nachdem ich ihm eine Dose Thunfisch geöffnet hatte, machte ich mit dem Handy ein Foto von ihm und setzte eine Tasse Tee auf. Der Geruch des Thunfischs tat meinem Magen nicht gut und ich hatte auch noch Kopfschmerzen von dem Wein letzte Nacht, aber ich sagte mir, dass ich daran selbst schuld war, und klappte den Laptop auf.

Auf der Titelseite der Online-Nachrichten sprang mir eine Überschrift entgegen: Leadsänger von NEBEN mit Porsche gegen Baum geknallt – wollte er sich umbringen?

Hey, war das nicht der Typ, den Flo so gut fand? Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete das Foto des Sängers. Es zeigte ihn mit Sonnenbrille, wie er mit gesenktem Blick über die Straße ging. Er war blass und sah total übermüdet aus und darunter stand: Litt er unter Depressionen?

Ich klickte den Artikel an.

Eric Adams, Leadsänger der aufstrebenden Rockband NEBEN hatte gestern Nacht auf regenglatter Fahrbahn einen Autounfall. Eric kam mit seinem Porsche wegen überhöhter Geschwindigkeit in einer Kurve ins Schleudern und krachte gegen einen Baum. Er wurde daraufhin unverzüglich ins Krankenhaus eingeliefert, doch über die Schwere der Verletzung ist noch nichts bekannt.

Nun stellt sich die Frage, ob es sich tatsächlich um einen Unfall handelte, oder ob Eric seinem Leben ein Ende setzen wollte. Freunde des Sängers warnen, dass er Anzeichen einer Depression zeigte und schon mehrfach Selbstmordgedanken geäußert hat.

 

Der Kater maunzte und ich stand auf und öffnete ihm gedankenversunken das Fenster in den Innenhof. Wenn der Typ wirklich solche Probleme hatte, ließ er sich hoffentlich helfen. Ich musste wieder an die Zeile aus seinem Song denken: „Du bekommst das nicht mehr … denn alles ist leer“ und atmete tief durch, als automatisch Tims Gesicht vor meinem inneren Auge auftauchte. Entschlossen ging ich ins Wohnzimmer und holte meine Liste hervor, unter die ich zwei neue Punkte setzte:

Erstens: Keine schlechten Nachrichten mehr lesen und danach im Selbstmitleid versinken.

Und zweitens: Nicht länger über Tim nachdenken.

Dann packte ich meine Sachen für die Uni zusammen.

 

Die Universität glich einem Bienenstock. Die Gänge waren erfüllt von Menschen, die lachten und sich unterhielten, und es summte richtig vor Energie und Wissbegierigkeit.

Okay, vielleicht romantisierte ich die Dinge ein wenig, aber es fühlte sich einfach gut an, endlich hier zu sein. Zu lange hatte ich darüber nachgedacht, was ich alles tun wollte – nun tat ich es endlich. Und es lag noch so viel vor mir.

Nachdem ich mit meinem Handy ein Foto geschossen hatte, um die ganz besondere Stimmung hier einzufangen, machte ich mich auf die Suche nach meinem Vortragssaal. Ich wich einem heftig diskutierenden Pärchen vor mir aus und knallte gegen einen Typen, der einen Coffee-to-go-Becher in der Hand hielt, mit dem er sich nun sein weißes Hemd ankleckerte.

„Oh mein Gott, das tut mir so leid“, stotterte ich und sah zu, wie der braune Kaffee den Stoff durchtränkte und sich am flachen Bauch meines Kollisionspartners festklebte.

„Ich hätte ihn gleich trinken sollen“, erwiderte der Typ mit einem schiefen Grinsen und hielt den Becher etwas umständlich in die Höhe. „Dafür sind meine Unterlagen heil geblieben.“

Er blickte mir ins Gesicht und stockte. „Habe ich … habe ich Sie nicht gestern schon in dem Café gesehen?“ Ich kramte in meiner Handtasche nach einem Papiertaschentuch und nickte. „Ja. Latte Macchiato, extra Milch, extra Zucker“, sagte ich zerstreut und zog endlich triumphierend ein Taschentuch hervor. „Hier bitte.“

„Das haben Sie sich gemerkt?“, staunte der Typ anerkennend und vergaß dabei ganz, das Taschentuch anzunehmen. „Was studieren Sie?“

„Jura“, antwortete ich und nahm ihm den Kaffeebecher ab, damit er sich saubermachen konnte.

Der Typ lächelte, während er sich mit dem Taschentuch abtupfte. „Jura, ich bin beeindruckt. Eine sehr gute Wahl. Was halten Sie davon, wenn wir uns mal verabre…“

Ich sah auf die Uhr. „Tut mir leid, aber ich muss meine Vorlesung erwischen, ich möchte beim ersten Mal nicht zu spät kommen.“ Ich drückte ihm den Kaffeebecher wieder zurück in die Hand und lächelte ihn kurz an. „Und nochmal sorry wegen Ihrem Hemd.“

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