Esther – zweiundvierzig

Esther – zweiundvierzig

„Wie kommst du darauf, dass sich immer alles nur um mich dreht?“, fragte ich ehrlich erschrocken. Flo hatte immer zu mir gehalten und ich konnte kaum glauben, in welche Richtung das Gespräch gerade lief.
Sie schnaufte. „Vergiss es, Esther.“
„Nein!“ Ich setzte mich auf dem Sofa aufrechter hin. „Ich will wissen, was du meinst! Meinst du, weil ich im Koma gelegen bin? Geht es dir darum?“
„Ehrlich, für wen hältst du mich?“, rief sie und ihre Stimme überschlug sich. „Denkst du, ich bin so eine verdammte Zicke, dass ich dir deinen beinahe tödlichen Autounfall vorhalte?“
Sie klang zutiefst verletzt und ich atmete einmal tief durch und versuchte, mich zu beruhigen. Das hatte doch keinen Sinn. Wir stritten hier über … nichts. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihr los war, es fühlte sich an, als hätte ich ihren bösen Zwilling am Apparat, aber das behielt ich lieber für mich.
„Natürlich halte ich dich nicht für eine Zicke“, sagte ich besänftigend. „Ich versteh nur nicht, was hier gerade abgeht.“
Eine Weile war es still.
„Schon gut“, murmelte sie dann. „Ich weiß es selbst nicht.“
Ich umklammerte den Telefonhörer und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Ist es wegen … Eric?“, fragte ich leise.
„Nein! – Oder ja, keinen Ahnung“, seufzte sie und ich hörte, wie sie einen großen Schluck von ihrem Kaffee nahm.
„Es tut mir leid“, murmelte ich.
Sie lachte unglücklich. „Das muss dir nicht leid tun, Esther. Er steht einfach nicht auf mich.“
Ich runzelte die Stirn.
„Und ja, das ist ein Filmtitel“, fügte sie hinzu und wusste anscheinend genau, was ich dachte. „Er passt nur gerade so verdammt perfekt.“
„Das zwischen Eric und mir passt leider nicht so verdammt perfekt“, erwiderte ich und dann spürte ich, wie das passierte, was unter keinen Umständen hätte passieren sollen. So eine verdammte Träne suchte sich ihren Weg aus meinem Auge und kullerte über meine Wange.
„Es tut mir leid, Süße“, sagte Flo und ihre Stimme war viel weicher und wärmer. „Erzähl.“

Nachdem ich Flo alles erzählt hatte, ging es mir ein kleines bisschen besser. Es war in etwa so, als hätte man mir einen Fingerhut Wasser gegeben, nachdem ich zwei Tage in der Wüste herumgeirrt war. Allerdings wollte ich mehr als den Fingerhut, ich wollte einen ganzen Fluss, wo ich meinen Kopf hineinhängen und trinken konnte … und dieser Fluss, den ich wollte, das war er. Ich wusste nicht, ob ich einem Leben in der Öffentlichkeit gewachsen war, wusste nicht, ob das zwischen Eric und mir tatsächlich klappen konnte, aber ich wollte es zumindest versuchen. Mein Gott, ich wünschte mir so sehr, ihn nur einmal zu küssen, dass es mich schon fast körperlich schmerzte, ihm nicht nahe sein zu können.
Nach dem Gespräch mit Flo ging ich in die Küche und machte mir einen Kamillentee. Dann stellte ich mich ans Fenster und trank den Tee langsam und schluckweise. Mein Blick glitt nach draußen, dorthin, wo die Sonne ihre untergehenden Strahlen in sanften Gelb- und Rottönen über die Dächer schickte. Ich musste mich zusammenreißen. Ich musste mich verdammt nochmal zusammenreißen und nach vorne sehen. Mich hatte die Kollision mit einem Auto nicht umgebracht. Da würde mich Eric auch nicht umbringen.

Am nächsten Tag quälte ich mich um acht aus dem Bett und ging zur Uni. Ich hatte mir fest vorgenommen, mir wieder so etwas wie einen Alltag aufzubauen, mit geregelten Uni- und Arbeitszeiten. Das erinnerte mich daran, dass ich auch noch meinen Boss anrufen, und ihm sagen musste, dass ich nicht gestorben war. Meine Eltern hatten sich um so vieles gekümmert, als ich im Koma gelegen war, dass es beinahe ungewohnt war, wieder Verantwortung zu übernehmen.
Auf der anderen Seite fühlte es sich gut an. Es hatte mich viel Überredung gekostet, Mama davon zu überzeugen, dass sie und Papa wieder zurück nach Hause fahren sollten, als klar war, dass ich das Krankenhaus bald verlassen konnte. Aber außer einer kleinen Wunde, wo die Ärzte meinen Schädel aufgebohrt hatten, war von dem Unfall kaum noch etwas übriggeblieben. Ich hatte wie durch ein Wunder nur Prellungen erlitten und auch die blauen Flecken waren größtenteils schon wieder verblasst. Und im Grunde ging es mir jetzt besser als dem Typen, der mich angefahren hatte. Er hatte das Rot der Ampel übersehen und musste sich nun auf sein Gerichtsverfahren vorbereiten.
Als ich kurz vor neun das Unigebäude betrat, versuchte ich also, positiv in die Zukunft zu blicken.
Es ging mir gut. Ich war am Leben.
Es ging mir gut.
Ich ging in die Vorlesung von dem Latte Macciato-Dozenten, ich unterhielt mich mit ein paar Kommilitonen, die sich freuten, dass ich doch nicht tot war, und während all der Zeit versuchte ich diese riesengroße Sehnsucht in meiner Brust zu ignorieren. Diese Sehnsucht, die mich an nichts anderes als an ihn denken ließ und die es mir wirklich schwer machte, dem Stoff zu folgen.
Zu Mittag war ich völlig erschöpft. Ich war mir nicht sicher, ob es eine körperliche oder eine emotionale Erschöpfung war – womöglich war es beides. In der Mensa kaufte ich mir ein Brötchen und trat damit hinaus auf den Campus, um noch ein paar Sonnenstrahlen zu genießen. Dabei fiel mir ein seltsamer Menschenauflauf auf der Straße auf. Neugierig reckte ich den Kopf. Was war da los?

5 thoughts on “Esther – zweiundvierzig

  1. Bitte sagt, dass es Eric ist, der sie einfach mit nimmt und zu einem ruhigen Ort entführt ?

    Und ich bin echt froh, dass sich Flo wieder eingekriegt hat! Sonst hätte sie ja gar keine Freunde mehr ?

  2. Ihr schreibt echt Tag und Nacht, oder?
    Die Wochen vergehen wie im Flug, weil ihr uns immer mit den tollen Geschichten von Eric und Esther beglückt. Ihr seid klasse – bin echt gespannt, wie’s weitergeht.

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