Esther – sechsunddreißig

Esther – sechsunddreißig

Ich war da und zugleich war ich doch nicht da. Es war ein verdammt seltsames Gefühl, irgendein Zustand zwischen Träumen und Wachen, bei dem es mir oft schwer fiel, den Unterschied zu erkennen. Meine Eltern kamen mich jeden Tag besuchen und sprachen mit mir – und auch Flo kam immer wieder vorbei und erzählte mir von ihrem Alltag in der Uni und irgendwelchen heißen oder nicht-heißen Typen, mit denen sie sich traf oder nicht traf. Am meisten aber redete sie über Eric, und warum um alles in der Welt ich ihr verschwiegen hatte, Eric Adams – den Frontmann von NEBEN! – zu kennen.

Ich lag da in meinem Bett, eine Gefangene meines eigenen Körpers und hörte zu, unfähig, mich zu bewegen, unfähig zu antworten. Ich hätte jedoch sowieso keine Antwort gehabt, da ich Eric überhaupt nicht richtig kannte, geschweige denn, ihn mit NEBEN in Verbindung gebracht hatte. Der Gedanke war seltsam, alles war seltsam, und oft war es so seltsam, dass ich mir nicht mal sicher war, ob es sich um die Realität oder doch nur um einen Traum handelte.

Die Ärzte kamen regelmäßig in mein Zimmer und sagten, dass meine Verletzungen heilten, es aber völlig unklar sei, wann – und ob – ich je wieder aufwachen würde. Ich wollte ihnen dann ins Gesicht schreien: Ich bin wach! Merkt ihr denn nicht, dass ich wach bin? Aber natürlich lag ich einfach weiterhin stumm und mit geschlossenen Augen da, während die Zeit unaufhörlich verstrich und ich nicht wusste, ob Tage oder Wochen vergingen. Ich bemerkte nur, dass das Weinen meiner Mutter seltener wurde und sich eine gewisse Routine in ihre Besuche einschlich, wobei es nicht ihre Besuche waren, auf die ich mich am meisten freute.

 

„Hey“, sagte er und seine Stimme brachte alles in mir zum Vibrieren, es war, als würde sie direkt an meinen Nervenenden andocken und ich hätte so gern die Augen aufgeschlagen und auf dieselbe sexy Art Hey zu ihm gesagt.

„Ich habe dir was mitgebracht“, ließ er mich wissen und ich roch den dezenten Duft von Rosen.

Danke, erwiderte ich in meinen Gedanken. Ich hoffe, es ist nicht schlimm, dass ich trotzdem am liebsten dich rieche. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Parfum er trug, aber es duftete abgöttisch gut an ihm.

„Chris ist heute aus dem Krankenhaus entlassen worden“, sagte Eric und ich hörte, wie er sich einen Stuhl an mein Bett heranzog. „Er humpelt noch ein bisschen und macht ein Riesentheater wegen seinem Fuß, aber für Chris’ ist auch jeder Schnupfen ein Weltuntergang. Als wir noch Kinder waren, hat ihn mal eine Biene gestochen und er ist den ganzen Nachmittag mit einem Eisbeutel auf dem Finger herumgerannt. Drei beschissene Stunden lang.“

Ich lächelte innerlich. Es gefiel mir, wenn Eric mir etwas aus seinem Leben erzählte. Wenn er von Chris sprach, wurde seine Stimme immer ganz anders und ich hatte das Gefühl, einen anderen Eric zu hören, als den, der sich im Radio mit den Moderator anlegte.

„Die Pressefuzzis haben jetzt auch mitbekommen, dass ich öfter da bin“, sagte er dann und bei der Erwähnung der Presse, war seine Stimme wieder kalt und hart.

Ich hätte ihn so gern angesehen. Es war, als würde ich gegen eine innere Wand laufen, eine Wand aus Dunkelheit und Dichte, die es mir nicht erlaubte, weiterzukommen als bis zu der Stelle, wo ich meinen Körper ausschließlich passiv nutzen konnte.

„Ich hab noch was für dich“, sagte er dann etwas leiser und ich hörte, wie er aufstand und zur Tür ging. Als er wiederkam, war ich so gespannt, wie man es als Komapatientin nur sein konnte – äußerlich lag ich noch immer genau so ruhig da, aber innerlich vibrierte alles.

„Ich hab einen Song für dich geschrieben“, hörte ich Eric sagen und der raue Klang seiner Stimme verursachte mir eine Gänsehaut. „Er heißt: Alles und nichts.“ Seine Stimme klang so unglaublich traurig, als er das sagte, und ich fühlte, wie die Traurigkeit auch auf mich übergriff. Dann glitten seine Finger über die Saiten und er begann zu singen.

 

Das Herz ist so geschunden, hat sich tausendmal gewunden … hatte nicht das gefunden, was es gab, hat geschlagen und gehämmert, bis ins Grab. Hat nur Altes gesehen, wollte sich nicht mehr umdrehen, hat versucht zu entkommen, ohne Klang. Hat versucht zu vergessen, mit viel Drang. Und dann sah ich die Wolken ziehen, sah Altes gehen, sah Gefühle fliegen, und dann ….

 

Seine Worte schienen direkt aus seiner Seele zu kommen und ich fühlte, wie mir eine Träne über die Wange kullerte.

In jeder einzelnen Zeile steckte solch ein Schmerz und ich hätte am liebsten die Hand ausgestreckt, um ihn zu berühren. Langsam drehte ich den Kopf in seine Richtung, um ihn anzusehen. Seine Haare hingen ihm zerzaust in die Stirn und er sah unglaublich müde und traurig aus.

Er beendete das Lied und blieb noch einen Moment einfach nur sitzen, so als würde er die Worte in seinem Kopf nachklingen lassen. Und dann hob er langsam den Blick und starrte mich aus seinen wunderschönen blauen Augen an.

10 thoughts on “Esther – sechsunddreißig

  1. Ihr zaubert immer wieder eine himmliche Stimmung in diesem Blog, so das man süchtig auf mehr wird. Ich finde es schön wenn ihr uns Leser so verzaubert. Danke. Danke 🙂

  2. Ohh meine Güte. Sie sieht seine Augen. Sie ist wach. Euer Blog Roman ist so fesselnd und ich erwarte sehnsüchtig den Freitag. Bitte weiter so und mehr mehr mehr. Ihr seid spitze.

  3. Ich habe euren Blog jetzt esrt entdeckt und ich müss sagen ich bin sehr froh darüber denn die spannung hätte ich nicht ausgehalten! Ihr schreibt einfach grossartig und so fesselnd das ich mir bis hierher alles auf einmal reingezogen habe! ? danke dafür!

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